Integration bedingt Offenheit

Donnerstag, 22. April 2021 - Gregor Gubser
Der Produzent der Schweizer Armeemesser engagiert sich seit der Gründung für die Schaffung von Arbeitsplätzen. Welche Werte dabei zentral sind und wie dies auch Personen zugutekommt, die eine IV-Rente beziehen, erklärt der Personalchef von Victorinox, Robert Heinzer.
Herr Heinzer, Victorinox gilt als sozialer Arbeitgeber. Woher kommt das?

Karl Elsener hat vor 137 Jahren seine Messerschmiede mit der Absicht gegründet, Arbeitsplätze in der mausarmen Innerschweiz zu schaffen und zu erhalten. Um dies zu erreichen, hat er sich zum Ziel gesetzt, Lieferant der Schweizer Armee zu werden. Seither haben sich verschiedene zentrale Werte in der Unternehmenskultur etabliert.

Erstens: Gegenseitiger Respekt. Wir respektieren die Menschen so, wie sie sind. Ob gross oder klein, Mann oder Frau, katholisch oder reformiert, weiss oder braun, alle verdienen denselben Respekt.

Zweitens: Vertrauen. Wir vertrauen den Menschen und ihren Fähigkeiten.

Drittens: Zusammen mit dem Vertrauen, das wir ihnen schenken, übertragen wir ihnen Verantwortung.

Viertens: Dankbarkeit und Wertschätzung. Es braucht jedes Rädchen für den Produktionsprozess. Das muss den Führungskräften bewusst sein. Wertschätzung muss auch immer wieder zum Ausdruck gebracht werden.

Die Wertschätzung unter allen Mitarbeitenden wird durch den Gebrauch von wenigen Worten täglich spürbar: Guten Tag, bitte und danke. Wer grüsst, um etwas bittet und es nicht einfordert oder befiehlt und sich schliesslich dafür bedankt, hat es gut bei uns.

Ein spezieller Wert ist schliesslich eine gewisse Bescheidenheit des Individuums. Wir müssen uns bewusst sein, dass alles Gute, das wir leisten, ein Ergebnis ist, an dem viele beteiligt waren. Team und Gemeinsamkeit stehen im Vordergrund. Dazu zählt auch eine sozialverträgliche Lohnschere.

«Es ist besser, Menschen mit begrenzten Ressourcen in einer Gruppe mit Menschen arbeiten zu lassen, die viele Ressourcen zur Verfügung haben.»

Zur Person

Robert Heinzer (62) arbeitet seit 28 Jahren bei Victorinox. Er ist in Ibach geboren und sollte als Erstgeborener das Dachdeckergeschäft des Vaters übernehmen. Doch er folgte seinem Leichtathletik-Trainer nach Bern, machte dort das KV und die Handelsschule. Er wurde selbst Leichtathletik-Trainer, dann Sportlehrer in Magglingen und schliesslich Betreuer von Leichtathleten an Weltmeisterschaften und olympischen Spielen. Parallel besuchte er Personalfachkurse. Zufällig traf er seinen Jugendkameraden Carl Elsener junior im Militär, der ihn überzeugte, nach Ibach zurückzukehren. Heute ist Heinzer Chief Human Resources Officer. Er will noch bis 63 die volle Verantwortung tragen und seine Aufgaben dann Schritt für Schritt weitergeben. Wenn dies sein Chef wünscht, würde er auch mit reduziertem Pensum etwas über 65 hinaus weiterarbeiten. Heinzer wohnt in Schwyz, ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne (28 und 24). Seine Frau führt einen eigenen technischen Grosshandel und zusammen betreiben sie als Hobby einen Schuhladen in Zürich.

Äusseren sich diese Werte auch bei der Anstellung von Menschen mit Behinderungen?

Ja, das zentrale Anliegen unseres Gründers, Arbeitsplätze zu schaffen, gilt auch für Menschen mit eingeschränkten Ressourcen. Von den rund 2100 Vollzeitstellen weltweit – 1050 davon in Ibach – sind gut 20 an Personen mit begrenzten Ressourcen vergeben. Darunter sind Menschen, die im primären Arbeitsmarkt Mühe hätten, Fuss zu fassen: Menschen mit einer Rente der IV oder Suva/Unfallversicherung, aber auch junge Menschen aus Sonderschulen.

Die Arbeitsmarktfähigkeit dieser Menschen ist uns wichtig. Auch wir sind gewachsen und haben rationalisiert und automatisiert. Aber immer nur soweit, dass wir die Menschen, die einfache, repetitive Arbeit gemacht haben, weiter beschäftigen konnten. So haben sich gewisse Arbeitsplätze von der Produktion zur Verpackung verschoben. Oder wir haben Aufgaben ins Unternehmen geholt, die früher extern vergeben waren, zum Beispiel das Montieren von Uhrenbändern.

Wäre auch die Integration von mehr als 20 Personen mit begrenzten Ressourcen denkbar?

Denkbar ist das schon. Aber dazu bräuchten wir fachlich bestens ausgebildete Betreuungs- und Führungskräfte. Und vermutlich auch einen eher «geschützten» Bereich, von dem wir bisher abgesehen haben.
Werden Sie manchmal auch davon überrascht, dass Personen mehr Ressourcen haben als angenommen?

Ja. Wir konnten einmal einen körperlich handicapierten Menschen von der Behindertenwerkstätte Schwyz (BSZ) übernehmen. Dieser hat sich stark mit dem Unternehmen und den Produkten identifiziert und einige innovative Vorschläge erarbeitet, die teilweise sogar umgesetzt werden konnten.

Welche Formen von Beeinträchtigungen sind vertreten?

Psychische wie auch körperliche Behinderungen. Kürzlich haben wir eine autistische Person eingestellt, die besondere Betreuung braucht. Zur Unterstützung bekommen wir von der IV während sechs Monaten einen Einarbeitungszuschuss. Wir betreiben auch mehrere Trainingsplätze für die IV und die Suva. Ganz vereinzelt konnten wir auch schon Personen aus diesen Trainingsplätzen ins Unternehmen übernehmen. Wir beschäftigen zudem Menschen aus dem engeren Umfeld mit limitierten Ressourcen zu einem normalen Lohn, im Wissen, dass nicht dieselbe Leistung erwartet werden kann.

«Das zentrale Anliegen unseres Gründers, Arbeitsplätze zu schaffen, gilt auch für Menschen mit eingeschränkten Ressourcen.»
Wie gelingt die Integration?

Wir verfolgen einen ressourcenorientierten Ansatz. Das heisst, wir konzentrieren uns darauf, was eine Person am besten kann. Dazu gehört auch die spezifische Gestaltung des Arbeitsplatzes oder der Zugänglichkeit. Ein Teil unserer Produktionsanlagen ist zum Beispiel rollstuhlgängig. Das ist die technische Seite.

Mindestens ebenso wichtig ist die Bereitschaft des Umfelds, zur Integration beizutragen. Es braucht die Offenheit der Führungskräfte sowie der Kolleginnen und Kollegen. Wir spielen mit offenen Karten: Wir informieren die Beteiligten, dass wir beabsichtigen, einen Mitarbeitenden mit begrenzten Ressourcen ins Team zu integrieren, und informieren sie darüber, welche Ressourcen vorhanden sind. Wenn das den Leuten von Beginn weg klar ist, wirken sie gerne mit. Und es macht sie auch stolz, wenn sie zur Integration beitragen können.

Ein Beispiel: Bis vor wenigen Jahren haben wir drei blinde Personen beschäftigt, die nun pensioniert sind. Sie haben rund 50 Jahre für Victorinox gearbeitet. Ein Mitarbeitender musste sie jeweils am Eingang abholen und am Arm führen, auch zum Pausenraum. So wird Hilfsbereitschaft und die Kultur sichtbar.

Wir hatten einmal über eine separate Integrationsabteilung nachgedacht, sind aber wieder davon weggekommen. Wir hatten Angst, dass dies zu einer Ausgrenzung beitragen könnte. Es ist besser, Menschen mit begrenzten Ressourcen in einer Gruppe mit Menschen arbeiten zu lassen, die viele Ressourcen zur Verfügung haben.

Wir fragen uns immer, wie viel das Unternehmen technisch investieren kann und zu welchem Teil die Kultur bereit ist, eine Integration zu ermöglichen.

Wie bestimmen Sie die Arbeitsanforderung und wie setzt sich das Einkommen dieser Personen zusammen?

Wir sprechen uns immer mit den betreuenden Personen ab. So gibt es denn unterschiedlichste Formen. Es gibt manche, die eine volle Rente beziehen und dennoch Vollzeit arbeiten. Da geht es nicht um die Produktivität, sondern darum, dass diese Menschen eine Aufgabe haben und soziale Kontakte pflegen können. Andere haben eine halbe Rente und ein 50%-Pensum. Wieder andere haben 50 % Lohn und arbeiten Vollzeit mit reduzierter Leistung und bekommen ebenfalls eine halbe Rente. Zu den Renten kommen je nach Lebenssituation noch andere Leistungen wie zum Beispiel IV-Kinderrenten.

Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit den Sozialversicherungen?

Wir pflegen eine sehr enge und produktive Zusammenarbeit mit der IV-Stelle Schwyz. Wir sind zum Beispiel wunschlos glücklich mit der Berufsberatung oder dem Care-Team. Es zahlt sich aus, dass wir über lange Jahre enge Beziehungen aufbauen konnten; mit der IV-Stelle, der Suva, aber auch mit der Ärzteschaft. Dazu kommen weitere Netzwerke. Ich bin zum Beispiel Vizepräsident vom Netzwerk Arbeit Schwyz und Victorinox ist Mitglied von Compasso.

«Es steigert den Wert der Marke, wenn die Kunden wissen, dass ein fairer Arbeitgeber dahintersteckt.»
Es scheint, als würde sich Victorinox überdurchschnittlich für die Integration einsetzen.

Das Engagement deckt sich mit der Unternehmensphilosophie. Zudem sind wir der grösste private Arbeitgeber in der Region – wenn wir uns nicht engagieren, wer dann? Schliesslich beinhaltet das Engagement auch einen ökonomischen Aspekt: Es steigert den Wert der Marke, wenn die Kunden wissen, dass ein fairer Arbeitgeber dahintersteckt. Dank der fairen Anstellungsbedingungen steckt in unseren Messern auch ein ideeller Wert.

Haben auch «gesunde» Mitarbeitende die Möglichkeit, Teilzeit zu arbeiten?

Wir haben sehr viele Teilzeitmitarbeitende. Rund 70 % bis 80 % dieser 200 Teilzeitarbeitnehmenden sind Frauen. Unsere Mitarbeitenden arbeiten aus unterschiedlichen Gründen Teilzeit. So hat zum Beispiel der Hochleistungssportler Martin Annen für uns gearbeitet: Im Winter fuhr er Bob, im Sommer hat er bei uns in der Logistik Paletten herumgeschoben. Bei uns arbeiten Schwinger, Musiker, Väter und Mütter Teilzeit. Wobei Teilzeitpensen immer seltener mit Kinderbetreuungsaufgaben verbunden sind, sondern mit anderen Lebensentwürfen. Ein Paar hat mir mal gesagt, dass ihnen zusammen ein 150%-Einkommen reicht. Auch eine gestaffelte Vorbereitung auf die Rente mit schrittweise sinkendem Pensum ist immer häufiger. Manche arbeiten auch bis zur Rente 100% und dann noch zwei/drei Jahre reduziert weiter.

Victorinox.com
netzwerk-arbeit.ch
compasso.ch

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