Nur keine Ruhe bitte!

Donnerstag, 25. Juli 2024 - Karen Heidl
HR-Fachmann Fabio Blasi berichtet über «sein» ADHS – die Herausforderungen und die Potenziale.

Fabio Blasi

ist Leiter Employer Branding beim Kantons­spital Aarau, Dozent HR-Marketing & Personal­controlling an der Zürcher und an der Berner Fachhochschule sowie Vorstandsmitglied des Fachvereins für Personalmanagement und Interne Kommunikation Perikom und tritt regelmässig als Speaker auf.

Fabio Blasi wirkt ansteckend. Man spürt sofort seine Energie und seine Lebendigkeit. Im Gespräch sprüht er nur so vor Ideen, Inputs, Gefühlen, Wahrnehmungen. Es macht Spass, mit Fabio zu sprechen, und ein Interview ist ein kleines Abenteuer. Schnell springt Fabio zwischen den Themen hin und her, verliert aber nie den Faden. Es scheint, als habe er sie alle gleichzeitig im Kopf. Und so erzählt er über seine ADHS-Diagnose, seine berufliche Entwicklung als Führungskraft im HR, seine Erfahrungen im Job und in der Interaktion mit anderen Menschen.

Die Kindheit

Ich war lange ein sehr ruhiges, scheues Kind. Ich stotterte sogar ein wenig zwischen dem vierten und dem sechsten Lebensjahr. Das war wahrscheinlich ein erster Hinweis darauf, dass ich innerlich viele Gedanken gleichzeitig hatte. Diese Zurückhaltung dauerte bis zum Alter von etwa acht Jahren. Dann stellte sich eine Veränderung ein. Ich kann diese aber nicht genau beschreiben.

Ich lebte schon immer in einer intensiven Gefühlswelt und war sehr neugierig – zum Leidwesen meines Vaters. Er musste mir ständig alle möglichen Fragen beantworten – auch heute noch. Im Rahmen von schulmedizinischen Routineuntersuchungen hat man vermutet, dass ich Schwierigkeiten habe, mich zu fokussieren. Ich hatte immer sehr viele Ideen, die ich aber nicht alle greifen konnte. Dies konnte man offenbar an meinem Blick erkennen. Ich habe erst später im Leben gelernt, Menschen anzuschauen und nicht meinen Blick im Raum wandern zu lassen.

Meine Schulleistungen waren immer sehr gut, ich konnte auch ruhig sitzen und Geduld aufbringen, aber ich hatte immer sehr viele Gedanken, die ich am liebsten alle gleichzeitig bearbeiten wollte. Es war immer sehr schwierig für mich, mich auf eine einzelne Sache zu konzentrieren. Man empfahl dann meinen Eltern, diese Auffälligkeit genauer untersuchen zu lassen. In jener Zeit – ich bin heute vierzig – hatte man noch nicht gross von «ADHS» gesprochen; eher wurden bestimmte Lernschwierigkeiten behandelt, beispielsweise Legasthenie oder Dyskalkulie. Diesbezüglich zeigte ich jedoch keine Probleme.

Unser Hausarzt hat einige internistische Untersuchungen durchgeführt, die unauffällige Ergebnisse zeigten. Er erklärte meinen Eltern, dass ich eben einfach ein extrem interessiertes Kind sei. Er bescheinigte uns, dass es sich um eine leichte Form von ADHS handle, und empfahl, die Auffälligkeiten vorläufig gut zu beobachten. Sollten sich Veränderungen wie Herzrasen, Panikattacken oder Stottern einstellen, dann müsse man die Situation erneut untersuchen.

Die Diagnose ADHS war erstmal ein Schock, aber der Arzt beruhigte meine Eltern und sagte: «Lassen Sie Ihrem Sohn einfach seine Interessen. Er ist so neugierig. Es wird vielleicht eine Herausforderung sein, ihn zu fokussieren.» Meine Mutter hat dies anfangs nicht verstanden: «Gesund heisst doch gesund!»

Diese Auffälligkeit würde man heute wahrscheinlich schon früher erkennen – schon das Stottern würde heute anders wahrgenommen werden.

Leben mit ADHS

Heute ist es noch so, dass mich immer mehrere Dinge gleichzeitig interessieren und diese Dinge Emotionen hervorrufen. Man merkt es daran, dass ich häufig sehr schnell rede. Das braucht enorm viel Energie. Ich vergleiche mich immer mit einem Fisch. Fische schlafen ja nie tief. Genau so geht es mir: Ich kann nicht einfach nur chillen – einfach auf der Couch sitzen und nichts tun. Ich liebe zum Beispiel Werbung im Fernsehen, weil sie alle paar Sekunden etwas Neues bietet.

Beim Lernen hat mich dieses Phänomen zum Glück nie behindert. Ich bin zudem sehr pflichtbewusst, und mein Ego hätte es nie zugelassen, schlechte Ergebnisse zu bringen. Aber ich konnte während der Hausaufgaben problemlos zwischen Mathe und Franz 10 Minuten joggen gehen und vor dem Einschlafen noch schnell 10 Minuten Deutsch erledigen. Dieser relativ kurz getaktete Fokuswechsel hat mir geholfen, lange genug an einer Sache zu bleiben, um sie zu erledigen.

Das Schnellsprechen und die Sprunghaftigkeit bei den Themen können andere Menschen überfordern. So zeigt sich bei mir ADHS im Alltag. Deshalb habe ich mich dafür entschieden, dies offen zu thematisieren: Ich habe hyperaktive Züge, kann dies aber gut reflektieren und aussteuern.

Die berufliche Entwicklung

Im Zusammenhang mit der Arbeit erwiesen sich diese Fähigkeiten – schnell von einem Thema zum nächsten wechseln zu können und intensiv viele Gefühle wahrnehmen zu können – als ein grosses Potenzial. Ich habe heute den perfekten Job, weil ich diese Fähigkeiten voll ausschöpfen kann.

Meine berufliche Laufbahn begann ich mit einer kaufmännischen Lehre und arbeitete dann die ersten Jahre auf dem Beruf. Mir war aber schnell bewusst, dass mich dieser nicht ausfüllt. Wirtschaft und Psychologie haben mich sehr interessiert, und eigentlich wollte ich gerne Lehrer werden. Ich konnte mich aber nicht entscheiden. Die Berufsberatung in Zürich hat mich dann in der Entscheidungsfindung unterstützt. So habe ich schliesslich vier Jahre berufsbegleitend an der HWZ Betriebsökonomie studiert. Eine Dozentin ermunterte mich während des Studiums, HR zu vertiefen.

HR hat sowohl mit Betriebswirtschaft als auch mit Psychologie zu tun. «Da kann ich aufblühen», dachte ich mir. «In dem Beruf kann ich gestalten und mit Menschen arbeiten.» Schon während des Studiums erkannte ich, dass HR einen grossen Aufholbedarf hat und sich in der Schweiz noch sehr auf das Administrative fokussiert; man arbeitet eher problem- als lösungsorientiert. Die administrative Seite hat mich nie stark interessiert. Bei der Hirslanden-Gruppe wurden mir dann exzellente Entwicklungsmöglichkeiten geboten, so dass ich früh in eine Führungsposition gelangte.

Vom Typ her schätze ich Vollständigkeit und Korrektheit von Arbeitsergebnissen. Für jemanden, der sehr schnell und mit multiplen Themen gleichzeitig agiert, ist dies eine Herausforderung. Ich habe auch viele Ideen, die ich zum Glück auf durchführbare Aufgaben runterbrechen kann. Aber trotzdem: Von zehn Ideen sind vielleicht vier brauchbar. Im HR des Gesundheitswesens hatte ich immer sehr gute Vorgesetzte, die mich darin unterstützt haben. Ich habe Mitarbeitende im Team, die noch die fehlenden 20% analytische Tiefe erbringen, während ich bereits beim nächsten Thema bin. Das ergänzt sich gut: Während ich gerne mit meinen Kunden im Unternehmen kommuniziere, gibt es eben auch Menschen, die lieber zurückgezogen die Arbeit am Detail erledigen.

Offenheit ermöglicht Diversität

Ich kann mich nicht verstellen, deshalb ist es wichtig, dass andere wissen, mit wem sie es zu tun haben. Auf dieser Vertrauensbasis können sich die Talente im Team verknüpfen.

Ich persönlich finde es wichtig, dass man über Themen wie ADHS oder andere Herausforderungen, die das Leben mit sich bringt, offen spricht. Die Schweiz ist in dieser Hinsicht allerdings noch recht konservativ und zurückhaltend. Indem ich akzeptiere, dass ich ADHS habe, und dies auch mitteile, kann ich in meinem Umfeld einerseits mehr Verständnis erzeugen. Andererseits kann ich mein Potenzial besser ausleben, weil ich meine Besonderheiten für mich akzeptiert habe. Die Reaktionen auf diese Offenheit sind unterschiedlich.

Geschäftlich kann ADHS ein Erfolgstreiber sein. Denn wer ADHS hat, liebt häufig den Kundenkontakt, bringt Ideen ein und setzt viele Projekte gleichzeitig um. Der Output muss allerdings stimmen, was für Menschen, die sich mit vielen Themen gleichzeitig befassen, auch ein Risiko sein kann. Deshalb sind die Zusammenarbeit und der gute Kontakt mit anderen so extrem wichtig.

Meine Offenheit in Bezug auf ADHS schafft Raum für Diversität. Für unsere Unterschiede müssen wir Menschen uns nicht schämen. Menschen können sich vom Anderssein bedroht oder überfordert fühlen. Häufig schafft Offenheit aber einen neuen Zugang zu anderen Menschen, die dann ihrerseits mit mehr Offenheit reagieren.

Empfehlungen für Personalverantwortliche

Personalentscheidungen unterliegen heute noch sehr stark unbewussten Wertungen und Vorurteilen. Deshalb ist es wichtig, Entscheidungsgrundlagen auf vielen Perspektiven aufzubauen und diverse Meinungen einzuholen. Der Fachkräftemangel erfordert es mehr denn je, dass der Mensch wirklich im Vordergrund steht – und dies nicht nur aus Verzweiflung, weil die Idealbesetzungen nicht mehr verfügbar sind. Wenn man wirklich offen mit einem Menschen spricht, gewinnt man bereits in einem Kennenlerngespräch schon ein sehr gutes Bild von den Ressourcen einer Person. Ich kann nur dazu auffordern, sich mehr in den einzelnen Menschen hineinzuversetzen und dann zu urteilen. Man muss bei einem ADHS-Verdacht nicht zwingend diesen diagnostischen Begriff verwenden. Man kann auch sagen: «Ich erlebe Sie sehr vital. Ist das ein Charakterzug?» Aber aus Angst eine Beobachtung nicht anzusprechen, suggeriert am Ende falsche Vorstellungen über eine Person.

Autistische IT-Fachleute etwa, die beispielsweise bei SAP gezielt rekrutiert werden (siehe Infobox), haben wahrscheinlich Analysefähigkeiten, von denen wir nur träumen können. Wir müssen weg vom Defizitdenken, hin zur Ressourcenorientierung.

Autism at Work

2013 launchte das Technologieunternehmen SAP ein Programm, um Menschen mit Autismus zu integrieren. Ausgegangen war diese Initiative von der Niederlassung in Indien; heute arbeiten 160 Menschen mit Autismus in 14 Ländern in 25 verschiedenen Job-Rollen bei SAP.

Weitere Informationen

Take Aways

  • ADHS kann besondere Potenziale bieten, die sich im Laufe der schulischen und beruflichen Ausbildung entfalten können – Lehrende und Führungskräfte haben einen wichtigen Einfluss auf diese Entwicklungsmöglichkeiten.
  • Blasi plädiert für Offenheit im Umgang mit ADHS, um Verständnis bei anderen Menschen zu schaffen. Diese Offenheit fördert auch die Zusammenarbeit im Team und ermöglicht es, die Talente der Mitarbeitenden optimal zu nutzen.
  • Empfehlungen für Personalverantwortliche: Blasi spricht sich für eine ressourcenorientierte Personalpolitik aus. Er ermutigt Personalverantwortliche, sich auf die individuellen Stärken der Mitarbeitenden zu konzentrieren, anstatt sich vor Divergenzen zu fürchten.

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