ADHS – Superkraft oder Krankheit?

Donnerstag, 25. Juli 2024 - Karen Heidl
Ungefähr 200000 Menschen in der Schweiz leben mit dem Aufmerksamkeits-Defizit-/Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS). Viele Fälle sind nicht diagnostiziert. Vor allem bei Frauen findet eine Diagnose häufig erst im Erwachsenenalter statt. Die Neuropsychologin Julia Frey erklärt das Störungsbild und macht Mut für einen offenen Umgang mit ADHS in der Arbeitswelt.
Frau Frey, was sind die wichtigsten Merkmale eines ADHS- oder ADS-Syndroms?

Wie die Abkürzung ADHS schon sagt, gibt es zwei Aspekte, die das Syndrom kennzeichnen: Der eine ist die Unaufmerksamkeit, der andere ist die Hyperaktivität beziehungsweise die Impulsivität. Beides kann einzeln oder zusammen auftreten. Eine Person mit Unaufmerksamkeitssymptomen kann folgende Verhaltensweisen zeigen: Sie macht viele Flüchtigkeitsfehler, sie erweckt den Eindruck, als höre sie nicht zu, oder sie hat Schwierigkeiten, ihre Aufmerksamkeit länger auf etwas zu richten. Es fehlt den betroffenen Personen oft an Durchhaltevermögen, sie sind schnell ablenkbar und neigen zur Verzettelung. Auch eine Alltagsvergesslichkeit kann in das Bild gehören. Die Hyperaktivität zeigt sich derweil mit einer motorischen Unruhe, ständig wird mit etwas gespielt oder geknibbelt. Beim Sprechen ist eine hyperaktive Person ungeduldig, unterbricht andere und ist impulsiv. Die Unruhe kann sich äusserlich zeigen oder aber sich auch nur innerlich abspielen.

Julia Frey

M. Sc. in Psychologie und Fachpsychologin für Neuropsychologie FSP, arbeitet seit 2021 selb­ständig in Zürich und bietet seit 2022 Coachings in Aarau an. Sie hat langjährige Erfahrung in Akutspitälern. 2022 gründete sie mit Aude ­Arnoux das Projekt «Sofa to Share», das flexible Arbeitsmöglichkeiten für Psychotherapeuten  bietet. Mitgliedschaften: FSP, SVNP.

Früher hielt man ADHS für eine Entwicklungsstörung, die nur Jungen betrifft und sich im Erwachsenenalter legt. Heute hat man andere Erkenntnisse.

Im Erwachsenenalter hat man sich oft bereits Strategien angeeignet, um mit den Herausforderungen besser umzugehen und weniger aufzufallen, deshalb galt lange die These, ADHS wachse sich aus. Heute weiss man jedoch, dass ADHS auch im Erwachsenenalter noch immer eine grosse Belastung darstellen kann. Das klassische ADHS-Bild ist dasjenige vom Zappelphilipp, das sich stereotyp auf Jungen bezieht, die ständig in Aktion sind und häufig stören. Damit wird die Symptomatik von Mädchen häufig nicht wirklich erfasst. Denn sie leben die hyperaktive Komponente oft nicht so aus. Sie erleben stattdessen vermehrt innere Unruhe und emotionale Schwankungen. ADHS wird bei Mädchen häufig nicht erkannt und dann erst bei Frauen im Erwachsenenalter diagnostiziert. Die Jungs ecken häufiger an und sind auffälliger. Mädchen wenden viel Energie auf, um sich anzupassen. Dies wird mitunter auf die unterschiedliche Geschlechtersozialisierung zurückgeführt: In der Gesellschaft erwartet man von Mädchen, dass sie sich ruhiger verhalten. Häufig wird bei Frauen ADHS erst diagnostiziert, weil sie sich wegen anderer psychiatrischer Probleme wie Depressionen oder Burnout Hilfe suchen. Dem kann eine ADHS zugrunde liegen. Auch Suchterkrankungen treten oft gemeinsam mit ADHS auf. Wenn man über Jahre versucht, die Probleme zu überspielen und zu funktionieren wie neurotypische Menschen, dann sind diese Erkrankungen nachvollziehbar.

Heute gibt es eine Art «ADHS-Boom». Woran liegt das?

Heute gibt es viele Menschen, die in sozialen Medien über ADHS kommunizieren. Dies macht viele Menschen auf das Thema aufmerksam und führt zu mehr Abklärungen. Viele Symptome von ADHS kommen Menschen bekannt vor. Beispielsweise Konzentrationsstörungen. Diese sind jedoch sehr unspezifisch und können eine breite Palette von Ursachen wie Schlafmangel, Stress, Sorgen oder internistische Erkrankungen haben. Bei Frauen ist die beginnende Mutterschaft ein typischer Zeitpunkt, an dem sie eine Abklärung suchen. In dieser Lebensphase kommen viele Faktoren zusammen: Lebens- und Hormonumstellungen, Schlafmangel, Überforderung. Dies ist manchmal der Punkt, an dem ein ADHS nicht mehr kompensiert werden kann. Die diagnostischen Abklärungen werden von spezialisierten Fachpersonen aus Psychiatrie und Psychologie durchgeführt. Die Nachfrage ist in den letzten Jahren deutlich gewachsen, und es gibt zum Teil lange Warte­fristen.

Kann man ADHS als Krankheit bezeichnen?

ADHS ist eine neurologische Entwicklungsstörung. Heute spricht man oft von neurodivers und neurotypisch. Damit soll betont werden, dass es zwar Unterschiede in der Wahrnehmung und in der Interaktion mit der Umwelt gibt, die aber einfach als «anders» und nicht als «falsch» begriffen werden. Zudem gibt es ein breites Spektrum des ADHS, und die Einschränkungen sind abhängig vom Ausprägungsgrad sowie von der Umgebung, in der sich eine Person befindet. Ich denke, dass es wichtig ist, einen Mittelweg zu finden. In den sozialen Medien findet man heute oft das andere Extrem. ADHS wird als Superkraft heroisiert. Dieser Trend wird dem Thema auch nicht gerecht. Viele ADHS-Betroffene leiden im Alltag; das darf man nicht herunterspielen.

Was ist heute der Stand bei der Erforschung der Ursachen?

Die Ursachen sind multifaktoriell. Es gibt eine genetische Komponente, das heisst, ADHS tritt in Familien gehäuft auf. Es gibt auch Erwachsene, die sich erst durch die Abklärung bei ihren Kindern in gewissen Symptomen wiedererkennen. Die Wahrscheinlichkeit von ADHS ist in betroffenen Familien zwei- bis achtmal höher. Komplikationen während der Schwangerschaft oder der Geburt sowie Nikotin- und Alkoholkonsum während der Schwangerschaft scheinen eine Rolle zu spielen. Die Auswirkungen dieser Umweltfaktoren sind im Vergleich zur genetischen Komponente jedoch eher gering einzuschätzen. Neurobiologisch liegen die Ursachen in einer Imbalance der Neurotransmitter, vor allem von Dopamin, aber auch Noradrenalin.

Welche Behandlungsoptionen gibt es?

Primär gibt es medikamentöse und psychotherapeutische Optionen. Als Fachpersonen klären wir über die möglichen Wirkungen von Medikamenten auf, die Entscheidung für oder gegen eine Medikation liegt immer bei den Patienten selbst. Bei einem hohen Leidensdruck empfehle ich, die Medikation auszuprobieren. Ich habe häufig die Erfahrung gemacht, dass die Betroffenen davon profitieren. Weitere Optionen sind Psychotherapie und Coaching. Am besten ist eine Kombination der Möglichkeiten. Wenn Erwachsene diagnostiziert werden, handelt es sich nicht um eine plötzliche Erkrankung. ADHS beginnt in der Kindheit. Das heisst, die Patienten haben bestimmte Erfahrungen gemacht, die im Erwachsenenalter nachwirken, beispielsweise Misserfolge, das Gefühl, anders oder zu dumm zu sein; das Selbstwertgefühl hat gelitten. Eine Psychotherapie kann helfen, mit dem Wissen über die ADHS-Diagnose diese Erfahrung neu einzuordnen und Selbstakzeptanz zu schaffen. Die Patienten können auch lernen, mit ihren Ressourcen so umzugehen, dass sie Erschöpfung vermeiden. Im Coaching geht es um Strategien, um Alltagssituationen zu meistern. Ich finde es wichtig, dass man nicht möglichst viele Strategien entwickelt, um optimal zu funktionieren, sondern dass man sich auf die wichtigsten konzentriert und dann schaut, wo man auch im Aussen Anpassungen vornehmen kann, mit dem Ziel, sich nicht immer anpassen oder verstellen zu müssen.

Welche Anpassungen empfehlen Sie ADHS-Betroffenen im Kontext der Arbeitswelt?

Wenn Betroffene eine klare Vorstellung davon gewinnen, was sie brauchen, können sie dies auch mit ihren Vorgesetzten besprechen. Ich kann nur empfehlen, über ADHS in einen Dialog zu gehen. In Unternehmen können Teams von Menschen mit ADHS durchaus auch profitieren. ADHS geht mit vielen Stärken einher. Zum Beispiel verfügen Personen mit ADHS oft über eine grosse Begeisterungsfähigkeit und Kreativität. Von vernetztem Denken und den Fähigkeiten, neue Ideen miteinander zu verknüpfen und Projekte anzustossen, können viele Teams profitieren. Überhaupt kann Neurodiversität viele Impulse bringen. Mir ist es wichtig, in Vorträgen über die Chancen und Herausforderungen von Neurodiversität im Arbeitskontext aufzuklären und Mut zum Dialog zu machen.

Take Aways

  • ADHS ist gekennzeichnet durch Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität/Impulsivität, die einzeln oder gemeinsam auftreten können.
  • Unaufmerksamkeit zeigt sich durch Flüchtigkeitsfehler, Ablenkbarkeit und Vergesslichkeit. Hyperaktivität äussert sich in motorischer Unruhe und Impulsivität.
  • ADHS betrifft sowohl Kinder als auch Erwachsene, wobei das Syndrom bei Mädchen oft später diagnostiziert wird, da sie tendenziell weniger auffallen.
  • ADHS ist eine neurologische Entwicklungsstörung, die durch genetische und Umweltfaktoren verursacht wird und sich durch eine Imbalance von Neurotransmittern auszeichnet.
  • Behandlungsmöglichkeiten umfassen Medikation, Psychotherapie und Coaching, wobei eine Kombination am effektivsten ist.
  • Offene Kommunikation über ADHS und eine An­passung der Arbeitsumgebung können helfen, die Potenziale von Neurodiversität im beruflichen Kontext zu nutzen.

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