Fokus Koordination
Die Sozialversicherungen decken unterschiedliche Risiken. Damit die Versicherungen optimal ineinandergreifen, werden sie koordiniert.
Das BVG gewährt Leistungen für die Risiken Alter, Invalidität und Tod. Die Ansprüche aufgrund dieser Vorsorgefälle schliessen sich aus. Da die Freizügigkeitsleistung die Erhaltung des Vorsorgeschutzes bezweckt und das Risiko nach Eintritt des Vorsorgefalls bereits eingetreten ist, schliesst der Eintritt eines Vorsorgefalls auch den Bezug einer Freizügigkeitsleistung aus (Art. 2 Abs. 1 FZG). Entsprechend setzen auch die Weiterversicherung nach Art. 47 und Art. 47a BVG voraus, dass noch kein Vorsorgefall eingetreten ist.
Um die Ansprüche voneinander abzugrenzen, muss klar sein, wann welches Risiko (Alter, Invalidität oder Tod) eingetreten ist und ab wann Ansprüche aufgrund anderer Risikofälle ausgeschlossen sind. So kann zum Beispiel keine Invaliditätsleistung mehr verlangt werden, wenn der Vorsorgefall Alter bereits eingetreten ist. Umgekehrt besteht im Obligatorium nach Eintritt des Vorsorgefalls Invalidität kein Anspruch mehr auf Altersleistungen.
Illustrativ ist das folgende Beispiel: Eine versicherte Person war seit Oktober 2017 bei der IV zum Leistungsbezug angemeldet. Im Juni 2019 beantragte sie die vorzeitige Pensionierung, worauf ihr eine Altersrente ausgerichtet wurde. Mit Verfügung vom 29. Oktober 2019 sprach ihr die IV eine Invalidenrente ab 1. April 2018 zu. Nun stellte sich die Frage, ob die versicherte Person bei der Vorsorgeeinrichtung noch einen Anspruch auf Invalidenleistungen geltend machen konnte oder ob es bei den Altersleistungen (aus vorzeitiger Pensionierung) blieb.[1]
Im Bereich der obligatorischen beruflichen Vorsorge entspricht der Zeitpunkt des Eintritts des Vorsorgefalls Invalidität dem Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs auf eine Rente der Invalidenversicherung.[2] Der Vorsorgefall Invalidität tritt somit nicht mit der ihm zugrundeliegenden Arbeitsunfähigkeit ein, sondern erst mit Beginn des Anspruchs auf eine Invalidenleistung.[3] Für den Beginn des Anspruchs gelten sinngemäss die Bestimmungen des IVG (Art. 26 Abs. 1 BVG).
Massgebend ist somit der Beginn des Anspruchs auf eine Invalidenrente der IV, somit entweder der Zeitpunkt nach Ablauf des Wartejahrs nach Art. 28 IVG oder – bei verspäteter Anmeldung – frühestens ein halbes Jahr ab Anmeldung bei der IV (Art. 29 IVG). An diesem Zeitpunkt ändert sich nichts, wenn die Rentenauszahlung zur Vermeidung einer Überentschädigung aufgeschoben wird und die Invalidenleistung somit gar nicht zur Auszahlung gelangt. Auch spielt der Zeitpunkt der zusprechenden IV-Verfügung keine Rolle. Diese Grundsätze gelten auch für die weitergehende Vorsorge, sofern das Reglement nichts Abweichendes enthält.[4]
In obigem Beispiel ist der Vorsorgefall Invalidität somit am 1. April 2018 eingetreten. Damit konnte die versicherte Person die vorzeitige Pensionierung im Juni 2019 nicht mehr verlangen. Sie hat somit Anspruch auf Invalidenleistungen, an die die ausbezahlten Altersrenten anzurechnen sind.
Anders als bei den Vorsorgefällen Alter oder Tod kann bei Invalidität der Vorsorgefall auch wieder ganz oder teilweise entfallen. Das wäre der Fall, wenn die Invalidität nicht mehr besteht, weil die versicherte Person wieder arbeitsfähig wird. Ist eine Person infolge von Massnahmen nach Art. 8a IVG oder einer provisorischen Erhöhung des Beschäftigungsgrads weiter versichert (Art. 26a Abs. 1 BVG) und entfällt in der Folge die Invalidität, entsteht der Freizügigkeitsfall erst zu diesem Zeitpunkt.
Überobligatorisch kann vorgesehen werden, dass die Invalidenrente lediglich bis zum Rücktrittsalter und in der Folge eine tiefere Altersrente ausgerichtet wird (temporäre Invalidenrenten).[5] Die obligatorischen IV-Mindestleistungen müssen aber gewahrt sein.
Anspruch auf Altersleistungen haben Männer, die das 65. Altersjahr, und Frauen, die das 64. Altersjahr zurückgelegt haben (Art. 13 Abs. 1 BVG). Die reglementarischen Bestimmungen der Vorsorgeeinrichtung können abweichend davon vorsehen, dass der Anspruch auf Altersleistungen mit der Beendigung der Erwerbstätigkeit entsteht (Art. 13 Abs. 2 Satz 1 BVG). Der Anspruch auf Altersleistungen entsteht dann am ersten Tag nach Aufgabe der Erwerbstätigkeit und auf diesen Tag gilt der Vorsorgefall Alter als eingetreten.[6]
Wird das Arbeitsverhältnis in einem Alter aufgelöst, in dem der Versicherte nach den reglementarischen Bestimmungen bereits Anspruch auf eine vorzeitige Altersleistung hat, sind zwei Fälle zu unterscheiden:[7]
Nach Art. 22 BVG entsteht der Anspruch auf Hinterlassenenleistungen mit dem Tod des Versicherten, im Falle einer arbeitsrechtlichen Lohnfortzahlungspflicht frühestens jedoch mit Beendigung der vollen Lohnfortzahlung.[8]
Ist noch kein Vorsorgefall eingetreten und verlässt die versicherte Person die Vorsorgeeinrichtung, kann sie die Freizügigkeitsleistung (oder die Weiterversicherung) verlangen.
Liegt zum Zeitpunkt des Austritts bloss eine Arbeitsunfähigkeit vor, ist aber der Vorsorgefall Invalidität oder Alter noch nicht eingetreten, so liegt grundsätzlich ein Freizügigkeitsfall vor.
Muss eine Vorsorgeeinrichtung aufgrund der Zuständigkeitsregelung von Art. 23 BVG nachträglich Invaliditätsleistungen erbringen, muss die Freizügigkeitsleistung zurückerstattet werden (Art. 3 Abs. 2 und 3 FZG).
[1] Sachverhalt gemäss BGer 9C_732/2020 vom 26. März 2021.
[2] BGE 146 V 95 E. 4.4.
[3] BGer 9C_732/2020 vom 26. März 2021 E. 5 mit Hinweisen.
[4] BGE 146 V 95 E. 4.4 mit Hinweisen.
[5] Vgl. Art. 49 Abs. 1 Satz 2 BVG und BGE 130 V 469 E. 6.4.
[6] Vetter-Schreiber Isabelle, in: BVG/FZG Kommentar, Berufliche Vorsorge, 4. Aufl., Zürich 2021, Art. 13 Leistungsanspruch N 10.
[7] Siehe dazu z.B. BGer 9C_732/2020 vom 26. März 2021 E. 4.2.
[8] Die Frage, ob ein Anspruch auf eine Freizügigkeitsleistung bestand, stellte sich etwa in einem Fall, in dem ein infolge einer Krebserkrankung arbeitsunfähiger Versicherter, der noch keinen Anspruch auf eine IV-Rente hatte, das Arbeitsverhältnis am 14. Januar 2005 auflöste. Am 14. Februar 2005 verlangte er die Freizügigkeitsleistung, beging aber zwei Tage später Suizid. Der Anspruch auf die Freizügigkeitsleistung wurde bejaht, weil der Versicherte nicht wegen seiner Krankheit verstorben war und der Tod erst nach Beendigung des Vorsorgeverhältnisses (und des Ablaufs der Nachdeckungsfrist) eingetreten war (BGE 134 V 28).
Die Sozialversicherungen decken unterschiedliche Risiken. Damit die Versicherungen optimal ineinandergreifen, werden sie koordiniert.
Wenn Leistungen verschiedener Sozialversicherungen zusammentreffen, soll die betroffene Person schliesslich nicht mehr finanzielle Mittel zur Verfügung haben, als sie ohne die Gesundheitsschädigung gehabt hätte. Es geht um die Koordination, die Regelungen für das Zusammenspiel der Sozialversicherungen.
Bei Koordination denken viele an Leistungskürzungen zur Verhinderung von Überentschädigungen. Drei weitere Beispiele zeigen jedoch, dass die Sozialversicherungen umfassender aufeinander abgestimmt sind.
Eine andauernde ganze oder teilweise Arbeitsunfähigkeit kann zu einer Invalidisierung führen. Die Lohnfortzahlungspflicht, die durch eine Krankentaggeldversicherung abgelöst werden kann, und der Leistungsbeginn der IV und der Pensionskasse stellen ein heikles Koordinationsproblem dar. Aufmerksamkeit ist angesagt.
Die Sozialversicherungen decken unterschiedliche Risiken. Damit die Versicherungen optimal ineinandergreifen, werden sie koordiniert. Das Handout zeigt kompakt die Funktionsweise der Koordination auf.
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