Sollten diese Massnahmen auch in «normalen» Zeiten greifen – und somit regulär in die entsprechenden Gesetze aufgenommen werden?
Medici: Notrecht ist immer befristet. Damit die Gesetze langfristig verändert werden können, braucht es den regulären Gesetzgebungsprozess. Doch gewisse Lücken im bestehenden System wurden sicher sichtbar in der Krise. Daran werden wir uns auch in «normalen» Zeiten erinnern.
Werden die Erfahrungen mit diesen Massnahmen zu einem Ausbau der Sozialversicherungen führen?
Medici: Wir haben zum Glück ein Sozialversicherungssystem mit verlässlichen Strukturen. Was noch kommt und wo sich die Pole zwischen Eigenverantwortung und Solidarität bilden, ist nicht vorhersehbar. Die Maul-und-Klauen-Seuche kam zum Beispiel alle paar Jahre wieder und brachte einzelne Landwirte in Not. Darum wurde dann eine genossenschaftliche Versicherung ins Leben gerufen. Es gibt viele – auch sozialpartnerschaftliche – Formen zwischen Eigenverantwortung und gesamtgesellschaftlicher Solidarität.
Müller-Brunner: Ich befürchte, dass eine Erwartungshaltung geschaffen wurde. Nun fragt sich, was in diesem ausserordentlichen Regime notwendig war, und was davon in der neuen Normalität weiter benötigt wird.
Medici: Hier trägt das Verhältnismässigkeitsprinzip; es kam während der Coronakrise zum Zug und wird wieder funktionieren.
Wie weit sollen die Sozialversicherungen gehen, soll jegliches Risiko im Zusammenhang mit der Erwerbstätigkeit abgesichert werden?
Müller-Brunner: Nein, Sozialversicherungen sollen nicht alles abdecken. Das widerspricht unserer offenen Gesellschaft, ist schlicht nicht möglich und zudem zu teuer. Der Arbeitnehmer muss realisieren, dass jede Anstellung eine gewisse Unsicherheit mit sich bringt. Ebenso muss der Arbeitgeber mit gewissen Unsicherheiten umgehen können. Chancen und Risiken gehören zusammen. Es gibt drei Wege des Risikomanagements: Man kann Risiken vermeiden, versichern oder tragen. Jegliche Risiken zu vermeiden ist keine Option, alles zu versichern ist zu teuer, also muss man manchmal auch ein Risiko tragen. Dazu gehört, dass ganze Firmen untergehen können, weil ihr Angebot schlicht nicht mehr nachgefragt wird. Es wird wegen der Krise Konkurse geben, aber auch unabhängig davon. So oder so sichert die Arbeitslosenversicherung den Arbeitnehmenden ihr Einkommen.
Medici: In den Sozialversicherungen werden die «klassischen» Risiken Alter, Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Unfall abgesichert. Das steht für mich ausser Frage. Das Betriebsrisiko liegt beim Arbeitgeber, wobei die ALV die Arbeitnehmenden auffängt, die die Stelle verlieren. Die Krise hat aber auch Lücken aufgezeigt: Noch immer fehlt uns eine obligatorische Krankentaggeldversicherung. Oder es besteht schon lange eine Verfassungsgrundlage für eine Arbeitslosenversicherung für Selbständige – es gibt einfach immer noch kein Gesetz dazu. Freiwilligkeit ist auch bei selbständiger Erwerbstätigkeit nicht schwarz-weiss. Wir werden uns fragen müssen: Wo liegt die Grenze, an der wir kollektive Risikensicherung brauchen?
Aber der Trend geht zu einem Ausbau der Sozialversicherungen.
Medici: Die Sozialversicherungen müssen sich weiterentwickeln. Ein Paradebeispiel sind die Überbrückungsleistungen (ÜL) für ältere Arbeitslose. Hier hat sich über die letzten Jahre ein Bedarf gezeigt, dem nun mit dieser neuen Sozialversicherung begegnet wird.
Müller-Brunner: Die Bedingung für eine Abdeckung bleibt der wirtschaftliche Erfolg. Wenn die Betriebe erfolgreich sind, können sie auch die Arbeitsplätze erhalten.
Weitere Beispiele wären Vaterschafts- oder Adoptionsurlaub. Braucht es das?
Medici: Wir konnten in der Krise viel lernen. Insbesondere, dass das Kollektiv vieles besser gemeinschaftlich lösen kann. Und selbst der Arbeitgeberverband ist mittlerweile mit uns einig, dass die Kinderbetreuung nicht allein sozialpartnerschaftlich verbessert werden kann. Dazu braucht es staatliche Förderung. Den Vaterschafts- und Adoptionsurlaub muss man gesamtgesellschaftlich betrachten. Natürlich bekommt man freiwillig Kinder, aber Kinder liegen auch im Interesse der Gesellschaft. Freiwilligkeit ist auch bei selbständiger Erwerbstätigkeit nicht schwarz-weiss. Wo liegt die Grenze?
Müller-Brunner: Ich habe Mühe, wenn wir die ÜL mit dem Vaterschafts- und dem Adoptionsurlaub in denselben Topf werfen. Die ÜL sind Massnahmen eines ganzen Pakets. Die anderen Massnahmen – wie die rechtzeitige Standortbestimmung – sollen die ÜL verhindern. Die ÜL selbst sind nur das letzte Auffangnetz. Das ist eine ganz andere Ausgangslage.