Herr Naef, häufig wird konstatiert, dass die Corona-bedingt erzwungene Arbeit zuhause ein Katalysator für die Digitalisierung in den Unternehmen ist. Würden Sie dem zustimmen?
Grundsätzlich denke ich schon, dass der Homeoffice-Trend den Digitalisierungsbestrebungen in Unternehmen einen Schub gegeben hat. Auf der anderen Seite ist es aber auch so, dass Homeoffice an sich noch nichts über den Digitalisierungsgrad eines Unternehmens aussagt. Im Zusammenhang mit dem erzwungenen Homeoffice während des Lockdowns haben hauptsächlich Kommunikations- und Kollaborationstools Einzug in die Unternehmen gehalten. Seit März haben sich grosse Fortschritte bei den Technologien selbst und der Akzeptanz bei den Anwendern ergeben.
Natürlich waren nicht alle Unternehmen gleich gut vorbereitet. Wir haben in einigen Firmen Ad-hoc-Massnahmen umsetzen müssen, um Homeoffice überhaupt zu ermöglichen. Neben der Technikeinführung haben wir auch die Schulungen der Mitarbeitenden begleitet. Die Anwenderinnen standen jedoch nicht nur vor den Herausforderungen der neuen Technik, sondern mussten sich auch noch mit anderen neuen Themen befassen, beispielsweise mit der Intensivierung der Arbeit im Homeoffice und der Trennung von privater und Arbeitszeit.
Häufig werden Kommunikation und Prozesse über E-Mail gesteuert. Im reinen Homeoffice kann man dabei die Kontrolle verlieren, wenn sich die Mails im Posteingang stapeln wie in einer überquellenden Papierablage. Wie unterscheiden sich digitale Prozesse von analogen?
Ich habe bei einem Kunden eine solche Situation vorgefunden: Der Kreditorenprozess war nicht Homeoffice-geeignet. Die Rechnungen wurden nach Eingang in ausgedruckter Form von Abteilung zu Abteilung gereicht, kontrolliert und visiert. Dies bringt an sich schon Nachteile mit sich: Dieser Ablauf ist langsam, man weiss nicht, wo sich die Rechnungen genau befinden, oder sie gehen verloren. Diesen Prozess kann man in einen analogen, halbdigitalisierten und volldigitalisierten Typ einteilen. Bei diesem Kunden hat man in einer ersten halbdigitalisierten Phase die Rechnungen gescannt und dann per E-Mail den Visierungsprozess initiiert: Scannen, versenden, ausdrucken, visieren, scannen, weitersenden. Das ist allerdings aufwendiger als das Weiterreichen der Print-Rechnungen im Büro. Dieser Prozess wurde nun vollständig digitalisiert, einschliesslich digitaler Visierung und automatischer Buchung.
Zur Person
«HR muss sich einen digital Mindset noch geben, um in
dieser Zeit eine aktivere Rolle zu übernehmen.»
Andreas Naef ist Senior Consultant und Managing Partner bei der Beetroot AG, einem unabhängigen Schweizer IT-Beratungsunternehmen. Als Informatiker, Organisator und Total-Quality-Manager ist er seit rund zwanzig Jahren in den Bereichen Projekt-, Geschäftsprozess- und Change-Management tätig.
Eigentlich ein typischer Prozess, der in einem Risikoszenario berücksichtigt sein sollte. Eine Pandemie hatte wohl niemand als reelles Risiko vorhergesehen.
Genau. Es gibt darüber hinaus viele weitere Prozesse in einem Unternehmen, die nicht auf remote work ausgerichtet sind – beispielsweise der Posteingangsprozess oder Rekrutierungen, die ja in der Regel mit mehreren Medienbrüchen stattfinden. Sie müssen aber auch vollständig digital durchführbar sein, will man gut vorbereitet sein.
Haben Sie Empfehlungen, wie Unternehmen das Gelernte aus dem Lockdown systematisch aufarbeiten können?
Jedes Unternehmen ist einzigartig. Wenn wir in ein Projekt gehen, beleuchten wir immer drei Perspektiven: Organisation, Technologie, Unternehmenskultur. Es ist meistens nicht sinnvoll, einen analogen Prozess eins zu eins digital abzubilden, da so kaum Effizienzgewinne oder sonstige Vorteile generiert werden. Deshalb schauen wir im ersten Schritt immer die Organisation an und versuchen, einen Idealprozess zu definieren: Arbeitet man stark zentralisiert oder dezentral, lässt sich der betreffende Prozess anders denken, hat dies Folgen für die Organisation? Wenn man neue Technologien einführt, hat das häufig Auswirkungen auf die Unternehmenskultur und umgekehrt genauso. Die Einführung einer neuen Technik garantiert noch nicht, dass diese von den Mitarbeitenden angenommen wird. Hier spielt die Unternehmenskultur eine wichtige Rolle.
Eine systematische Aufarbeitung beginnt immer mit der Analyse der Ist-Situation vor dem Hintergrund der strategischen Ziele. Wenn man bestimmte Ziele erreichen will, müssen sich alle Massnahmen, die Organisation, Prozesse und Unternehmenskultur betreffen, daran ausrichten. Bei den aus der Ist-Analyse abgeleiteten Handlungsoptionen arbeiten wir langfristige Potenziale und Quick-Wins heraus. Eine Priorisierung der Projekte für die Roadmap nach Dringlichkeit, Kosten, Aufwand usw. ist unumgänglich. Ad-hoc-Projekte sollte man vermeiden, denn deren Ergebnisse sind meistens nicht nachhaltig.
Ein guter Startpunkt für Unternehmen, die in der Digitalisierung noch nicht weit fortgeschritten sind, ist die Digitalisierung des Daten- und Informationsmanagements, das heisst der dokumentengestützten Arbeitsabläufe. Das vereinfacht die digitale Zusammenarbeit schon sehr stark. Hier sind auch grosse Fortschritte bei den technischen Lösungen gemacht worden, beispielsweise die Cloud-Plattformen Microsoft 365, Zoho Workplace, Google G Suite oder Facebook Workplace. Wir empfehlen auch immer, die Projekte selbst überschaubar zu halten und eher in kleinen Schritten zu digitalisieren. Diese Vorgehensweise wird zudem vom Personal besser angenommen als Grossprojekte.
Wie würden Sie denn einen digital Mindset als Merkmal einer Unternehmenskultur beschreiben?
Ein wichtiger Aspekt des digital Mindset ist Aufgeschlossenheit für Neues. Mit der Digitalisierung entwickelt sich auch die Arbeitswelt durch eine Veränderung der Interaktionsweise und der Zusammenarbeit. Die Arbeit wird zeit- und ortsunabhängiger. Deshalb werden auch neue Konzepte entworfen, wie beispielsweise agile Methoden. Heute benutzt man für den Themenkomplex, der den Wandel in der Arbeitswelt umfasst, den Ausdruck «new work».
Welche Rolle nehmen Ihrer Meinung nach HR-Manager in Digitalisierungsprojekten ein?
Es ist meistens so, dass sich die Unternehmensbereiche zum Thema Digitalisierung unterschiedlich bewegen. Häufig erlebe ich HR dabei nicht unbedingt an der vordersten Front. HR-Abteilungen sind zudem nicht immer eingebunden in Digitalisierungsprojekte, die auch die Organisation betreffen. HR muss sich einen digital Mindset noch geben, um in dieser Zeit eine aktivere Rolle zu übernehmen. Ich denke beispielsweise an die Anpassungen von Rahmenbedingungen für neue Arbeitsformen oder die Arbeitszeit oder die Mitarbeit am Kulturwandel. Ich gehe davon aus, dass es im Zuge der Digitalisierungen im HR zu einer Aufgabenverschiebung kommen wird.
Der Anteil der administrativen Tätigkeiten wird durch Automatisierungen wie beispielsweise durch Chatbots, Zeugnisgeneratoren, Matching-Tools etc. weiter abnehmen, was den Vorteil hat, dass Ressourcen für andere Aufgaben in der Strategieumsetzung frei werden. Das bietet HR-Managern die Chance, sich stärker den Menschen zuzuwenden und Unternehmenskultur und Organisation mitzugestalten.
Der Weg ist allerdings aus meiner Perspektive noch lang. Häufig nehme ich in Unternehmen HR als «Mauerblümchen» wahr, das eher selten in Digitalisierungsprojekte integriert wird oder sich nicht einbringen will. Ich habe die Hoffnung, dass sich HR-Manager in Zukunft mehr öffnen und die Chancen wahrnehmen.
Take-Aways
- Homeoffice an sich sagt noch nichts über den Digitalisierungsgrad eines Unternehmens aus.
- Digitalisierungsvorhaben werden aus drei Perspektiven analysiert: Organisation, Technologie, Unternehmenskultur.
- Ein guter Startpunkt für Unternehmen, die in der Digitalisierung noch nicht weit fortgeschritten sind, ist die Digitalisierung des Daten- und Informationsmanagements, das heisst der dokumentengestützten Arbeitsabläufe.
- Ein wichtiger Aspekt des digital Mindset ist Aufgeschlossenheit für Neues.
- Die Digitalisierung und Automatisierung verschiedener HR-Prozesse bietet HR-Managern die Chance, sich stärker den Menschen zuzuwenden und eine neue Rolle in der Entwicklung einer neuen Unternehmenskultur einzunehmen.