Ich verstehe Sie so, dass bildgebende Untersuchungen zu häufig stattfinden …
Wenn wir die Zahlen sowohl in der Schweiz als auch international anschauen, dann verursachen Rückenprobleme oft die höchsten Kosten – sowohl hinsichtlich der direkten Krankheitskosten als auch hinsichtlich der indirekten Kosten für Arbeitsausfall, Invalidität usw. Man könnte schlussfolgern, dass vielleicht eine Art medizinische Überversorgung stattfindet, wenn es um den Rücken geht. Vielleicht wird zu viel mit Hightech-Methoden untersucht und vielleicht auch zu viel operiert.
Ich denke, dass niederschwellige Angebote helfen könnten, diese Kostenflut einzudämmen. Die Hausärzte sind die Gatekeeper im Gesundheitssystem, aber möglicherweise wäre die direkte Konsultation eines Physiotherapeuten, der erste Bewegungs- und Haltungstipps gibt, bei einfachen Fällen ebenso wirkungsvoll, anstatt zu warten, bis man dann wirklich zum Arzt muss.
Ich bin als Physiotherapeut voreingenommen, denke aber, dass es gut wäre, wenn Betroffene bei Rückenschmerzen direkt und ohne ärztliche Verordnung einen Physiotherapeuten aufsuchen könnten.
Wichtig ist, dass Betroffene früh zur Selbsthilfe aktiviert werden. Die passiert nicht bei Masseuren oder Osteopathen, bei deren Behandlung Patienten passiv bleiben. In vielen Ländern werden deshalb Physiotherapeuten auch ohne ärztliche Verordnung von den Krankenkassen akzeptiert.
Betroffene müssen Mittel in die Hand bekommen, sich selbst zu helfen, und nicht nur «behandelt werden».
Bewegungs-Coaching wäre auch ein dankbares Thema im betrieblichen Gesundheitsmanagement …
Wenn ich nach Skandinavien blicke – ich komme ja aus Finnland –, dann liegen viele Themen der primären Versorgung und Gesundheitsförderung bei den Unternehmen. Die Arbeitgebenden halten verschiedene Angebote bereit, bevor die Betroffenen mit ihren Krankenkassen abrechnen müssen. In der Schweiz haben nur einige grosse Unternehmen solche Angebote.
Ja, normalerweise werden Gesundheitsthemen als Privatsache des Arbeitnehmers betrachtet.
Dabei geht es doch um die Interessen der Arbeitgeber. Es geht um die Produktivität der Arbeitnehmenden!
Studien zeigen, dass es vor allem in sitzenden Berufen Rückenprobleme gibt, vor allem dann, wenn über lange Zeiträume ohne Unterbrechung gesessen wird. Abendliche Fitness bringe da wenig. Was empfehlen Sie?
Langes Sitzen kann man nicht ganz mit abendlichem Sport kompensieren. Der Körper hat sich dann schon an die Inaktivität gewöhnt, Herz, Kreislauf und Muskulatur haben sich bereits daran angepasst. Es ist wichtig, sich während des Arbeitstags zu bewegen. Man sollte häufig aufstehen und herumlaufen. Auch Sitzungen kann man im Laufen durchführen. Kopierer und Drucker sollten sich nicht zu nah am Schreibtisch befinden. Kaffeepausen sollte man eher stehend verbringen oder ein paar Bewegungsübungen durchführen.
Dabei ist es gut, die grossen Muskelgruppen zu aktivieren – deshalb empfehle ich Treppensteigen, eine sehr wirksame Bewegungsübung, genau wie Kniebeugen. Wir haben gerade eine Nackenschmerzstudie durchgeführt und festgestellt, dass Verspannungen am effektivsten mit Krafttraining verhindert werden. Man muss wirklich die Muskulatur betätigen und nicht nur dehnen. Dafür eignet sich auch ein Theraband ganz gut.
Erschreckend sind aktuelle Studien aus den USA zu den Wirkungen von Homeoffice, die zeigen, dass die Inaktivität 30 bis 50% zugenommen hat. Eine Schweizer Studie weist bei Menschen im mittleren Alter eine durchschnittliche Gewichtszunahme von 6.5 kg während der Coronakrise nach. Unter solchen Umständen leidet natürlich der Bewegungsapparat.
Der Arbeitgebende hat ja auch noch die Verantwortung, Arbeitsplätze ergonomisch auszustatten. Haben Sie hier spezielle Anregungen?
Ein variabler Schreibtisch, an dem man auch stehen kann, ist inzwischen Standard. Die Stehhaltung ist zudem in Online-Meetings viel angenehmer. Deshalb empfehle ich auch flexible Schreibpulte im Homeoffice. Stehen bringt für die Aktivität der Muskulatur sowie für Herz und Kreislauf schon viel.
Oft wird der Bildschirm falsch eingestellt – die obere Kante sollte sich auf Augenhöhe befinden, um Fehlstellungen des Nackens zu vermeiden.
Was könnten die Gründe sein, dass Frauen häufiger von Rückenschmerzen betroffen sind? Studien machen dazu keine definitiven Aussagen.
Das ist in der Tat nicht ganz klar. Von Natur aus sind Frauen beweglicher, haben aber weniger Muskulatur. Bei einer sitzenden Tätigkeit kommt es deshalb häufiger zu Fehlhaltungen. Die Männer sind etwas kräftiger und sitzen deshalb eher gerade.
In der Physiotherapiepraxis begegnen mir häufig gut bewegliche Frauen, die Yoga machen, und steife Männer, die gerne Fitnesstraining betreiben. Eigentlich sollte es umgekehrt sein: Frauen sollten ihre Muskulatur aufbauen, während Männer an ihrer Dehnbarkeit arbeiten. Das ist natürlich ein Bestätigungsbias: Man macht immer das am liebsten, was man gut kann. Deshalb werden im Fitnessstudio mitunter die falschen Muskeln trainiert, die dann bei Rückenverspannungen wenig bringen.
Und in welchen Situationen ist ärztliche Konsultation dringend angezeigt?
Vor allem bei neurologischen Anzeichen wie Lähmungserscheinungen, Taubheitsgefühlen oder wenn man inkontinent wird. Aber wenn der Rücken nur steif und verspannt ist, dann liegt mit höchster Wahrscheinlichkeit nichts Dramatisches vor.