Die Dimensionen der Resilienz

Mittwoch, 09. Oktober 2024 - Karen Heidl
Die 20. Nationale Tagung für betriebliches Gesundheitsmanagement 2024 widmete sich dem Thema Resilienz in all seinen Dimensionen: Individuum, Team und Organisation. Diese drei bedingen einander.

Die über 1100 Teilnehmenden der Tagung mit dem Titel «Destination Resilienz – Unternehmen & Mitarbeitende stärken» hatten sich gerade in ihren bequemen Sitzreihen der Arena im Kursaal Bern eingerichtet, als Eric Bürki, Mitglied der Geschäftsleitung der Tagungsveranstalterin, der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz, zu einigen Provokationen ausholte. Er formulierte drei Thesen: 

  1. Die meisten Unternehmen investierten Budgets in Krisenbewältigung und Schadensbegrenzung statt in Prävention. 
  2. Prävention und Training seien häufig nicht sehr nachhaltig, weil mehrere Faktoren ignoriert würden: die Freiwilligkeit der Teilnahme an einem Informationsangebot, der Bezug zum Daily Business und die Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz, die Prävention behinderten. 
  3. Die Einsicht in die Wichtigkeit der individuellen Resilienz sei zwar inzwischen bei vielen Unternehmen angekommen, auf der Ebene der Organisation könne es jedoch an essenziellen Voraussetzungen fehlen. Dazu gehörten beispielsweise Prozesse und Rollenverteilungen, die so gestaltet werden, dass Absenzen von Mitarbeitenden keinen zusätzlichen Stress verursachen, moderne, flexible Arbeitsbedingungen oder zugewandte Führung. 

Erfolgreiches Gesundheitsmanagement durch Kooperation 

Dr. Jens O. Meissner, Professor für Organisationale Resilienz an der Hochschule Luzern, und Tanja Matetic, Leiterin Assurance und Resilienz bei der BLS AG, benutzten das Bild eines Tangos, um das Verhältnis zwischen individueller und organisationaler Resilienz zu beschreiben. Der Begriff der Resilienz wurde seit den 1970er Jahren vor allem im Kontext der Psychologie geprägt und beschreibt eine posttraumatische Reifung, also die Fähigkeit, nach einer traumatischen Erfahrung wieder stabil und stark im Leben zu stehen. Im Umfeld der Informationstechnik werden mit resilienten Systemen Themen wie Ausfallsicherheit oder Datenintegrität beschrieben. Auch in der Organisation gehe es den Referenten zufolge dabei um zwei wichtige Kompetenzen: Die Fähigkeit, Widrigkeiten und Belastungen zu absorbieren und so das Funktionieren des Unternehmens sicherzustellen, und die Fähigkeit, sich von negativen Ereignissen zu erholen, bevor die Situation nicht mehr zu kontrollieren sei. Ob eine Organisation dazu in der Lage sei, liesse sich anhand von 13 Indikatoren überprüfen (siehe Grafik). 

Quelle: Präsentation  Prof. Dr. Jens O. Meissner, Luzern

Die Vielfalt von Aufgaben und Funktionen, die relevant für resiliente Organisationen sind, legte Tanja Matetic dar. Die BLS umfasst ca. 3800 Mitarbeitende aus diversen Nationen in ganz unterschiedlichen Funktionen etwa im Schienenverkehr, in der Administration oder in den eigenen Reparaturwerkstätten. Matetic erweiterte das Konzept von organisationaler Resilienz um die Assurance-Funktion. Assurance bezeichnet die Gesamtheit der in einem Unternehmen bestehenden Überwachungs- und Aufsichtstätigkeiten. Assurance unterstütze, so Matetic, vor allem in Unternehmen mit hohen und sanktionsbewehrten Risiken den Aufsichtsrat. Assurance-Aufgaben werden häufig in Funktionen wie Risikomanagement, Datenschutz- oder Sicherheitsbeauftragten ausgeübt und mit verschiedenen Kontrollsystemen überwacht. 

Die Referentin betonte in ihrem Vortrag die Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit zwischen HR und Assurance-Verantwortlichen im Bereich des Betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM). Während Arbeitssicherheit/Gesundheitsschutz in der Assurance-Verantwortung lägen, seien BGM-Massnahmen und Caremanagement HR-Sache. Eine enge Kooperation in einem gemeinsamen Steuerungsteam und mit einem gemeinsamen Dashboard zur Auswertung relevanter Erfolgsindikatoren stelle die Effektivität und Effizienz der Gesundheitsangebote für die Mitarbeitenden sicher. Die Referenten verwendeten die Metapher «Tango» für ihre Kernaussage: Kooperation im Unternehmen sei essenziell, um ein erfolgreiches BGM auf den Weg zu bringen. 

Resilienz fördern heisst handeln 

Nun mag «Kooperation» nicht unbedingt die erste Assoziation sein, die einem beim Thema Tango in den Sinn kommen mag – die emotionale Seite spielt aber auch eine Rolle. Die beleuchtete Dr. Alexander Hunziker, Professor für New Work an der Berner Fachhochschule. Er beschrieb Resilienz als ein «Aufblühen unter widrigen Umständen». Diese Fähigkeit brauche aber Rahmenbedingungen, in denen man dafür sorgen könne, gesund zu bleiben. Die Schaffung solcher Rahmenbedingungen sei eine Führungsaufgabe, denn Resilienz sei erlernbar und sie sei organisierbar. 

Resilienz sei nämlich keine Eigenschaft, erklärte Hunziker, sondern beschreibe eine Handlungsweise – «etwas, was man tut». Verhalten, Erfahrungen bzw. Eigenschaften und Haltungen können Resilienz fördern (siehe Übersicht).  

Prof. Dr. Alexander Hunziker Prof. Dr. Alexander Hunziker
Resilienz fördernde Faktoren 

Verhalten 

Eigenschaften  

Haltung 

Schlaf 

Optimismus 

Gelassene Zuversicht 

 

«Damit umgehen können, wenn das Leben gerade eine Katastrophe ist.» 

Ernährung 

Akzeptanz 

Mässigung 

Problemlösefähigkeit 

Entspannung 

Selbstfürsorge 

Beziehungen 

Selbstwirksamkeit 

Hobbies / Freudvolles 

Sinnorientierung 

Quelle: Präsentation Hunziker

Das «Tun» beschrieb er im Folgenden anhand einiger Beispiele: «Ich glaube, es ist sehr wichtig, eine ressourcenorientierte Sprache zu finden», sagte Hunziker. In einer Resilienz-Kultur stelle man sich auf Stärken ausgerichtete Fragen und fördere den Dialog. Am Beispiel Stress zeigte er, wie sich ressourcen- und belastungsorientierte Herangehensweisen unterscheiden: 

Beispiel Resilienz-Kultur: Wie sprechen wir über Stress? 

Ressourcenorientiert 

Belastungsorientiert 

Was schätzen Sie an Ihrem Arbeitsumfeld besonders? 

Was ist für Sie die grösste berufliche Belastung? 

Gab es eine Begebenheit, bei der man einem Fehler ruhig, sachlich und zielorientiert umgegangen ist? Wie ist das abgelaufen? 

Was sind für Sie die häufigsten Ursachen von Frustrationen? 

Was in Ihrem Team klappt oft gut und hilft, Stress zu vermeiden oder zu bewältigen? 

Welche Ansprüche werden an Sie oder an Ihr Team gestellt, die gerade nicht erfüllbar sind? 

Quelle: Präsentation Hunziker

Unterstützende soziale Rollen stärken 

Eine weitere wichtige Quelle von Resilienz sei das soziale Zusammenspiel eines Teams, in dem jedes Team-Mitglied seine Stärken einbringen könne. So etwa Menschen, die besonders mitfühlend sind, Teamkollegen, die Selbstvertrauen geben, oder Personen, die die Funktionsweise der Organisation erklären oder in Belastungssituationen neu gestalten können. Es gelte, diese Fähigkeiten gezielt in Rollen umzusetzen, die der gegenseitigen Unterstützung dienten. Dies könne man durch ressourcenorientierte Gespräche im Team fördern, in denen diese unterstützenden Rollen bewusst gemacht und gestärkt würden. 

Eigene Stärken reflektieren 

Eine zusätzliche Quelle für Resilienz seien Charakterstärken wie Neugier, Liebe zum Lernen, Ausdauer, Kreativität, Begeisterungsfähigkeit oder Humor. Charakterstärken seien einerseits angeboren, aber auch trainierbar. Dies könne allerdings anstrengend sein, wenn einem bestimmte Eigenschaften nicht in die Wiege gelegt worden seien. Hunziker regte an, die eigenen Charakterstärken zu reflektieren und sich darauf zu konzentrieren, diese besonders einzusetzen. Diese Vorgehensweise sei nicht anstrengend, ganz im Gegenteil baue sie Energie auf. Man solle darüber nachdenken, welche Charakterstärken einem selbst Kraft geben und wie sich diese zeigen. Wer diese Stärken in der Führungsarbeit nutze, könne beruflich erfolgreicher agieren. 

Leadership Kit

Foto: Gesundheitsförderung Schweiz 

Die Gesundheitsförderung Schweiz hat mit dem «Leadership-Kit» ein Angebot an Tools für Führungskräfte im KMU geschaffen, mit dem das Wohlbefinden von Mitarbeitenden gestärkt werden soll. Darunter auch die Kartensets «Let's talk» und «Get started». Die Karten machen das Wohlbefinden des Teams auf ressourcenorientierte Art und Weise zum Gesprächsthema. Weitere Informationen zu den Angeboten online.

Freundliche Präsenz  

Abschliessend räumte Hunziker mit der gedankenlosen Verwendung des Begriffs Achtsamkeit auf, der in einer Bildsprache häufig kitschigen Klischees unterworfen sei. Er definierte den Begriff als «einen Geisteszustand der freundlichen Präsenz» und führte weiter aus: «Achtsamkeit wirkt, sie schafft psychologische Sicherheit und Lernkultur.» So gehe es beispielsweise nicht um die Frage, wer schuld sei, sondern darum, was man lernen könne. Freundliche Präsenz auch in Stresssituationen sei etwas, was ebenfalls erlernbar sei. Achtsamkeitstraining sei gut erforscht und eine Wirkung nachgewiesen. Es wirke sich positiv auf Psyche und Geist aus. Auch das aktive Zuhören sei mit diesem Konzept verbunden. «Einer der wichtigsten Bausteine einer guten Managementausbildung ist die Fähigkeit, zuhören zu können», schloss Hunziker sein Referat. 

Resilienz-Praxisfälle 

Die BGM-Tagung bot auch in diesem Jahr viele Gelegenheiten, in Workshops und Plenen Praxisfälle kennenzulernen und Erfahrungen auszutauschen. Während Forschungen und Studien die Wirksamkeit bestimmter, auf positiver Psychologie und Vertrauen basierender Management-Methoden bereits seit vielen Jahren nachgewiesen haben, scheinen Wirksamkeitsnachweise von BGM-Massnahmen für manche Unternehmen noch eine Herausforderung dazustellen. So auch bei der Groupe Mutuel. 

Die Macht des Bewusstseins 

Das Thema «Die Herausforderung durch Transformation: Resilienz als kontinuierliche Reise» versprach einen Einblick in eine Resilienz-Kultur. Die Referentinnen waren hier Laura Convertini, verantwortlich bei Groupe Mutuel für die digitale HR-Transformation und Sophrologin (Sophrologie bezeichnet verschiedene Methoden der Bewusstseinsschulung), und Hélène Parisot, die neben ihrer Tätigkeit als Strategic HR Project Manager für Groupe Mutuel bei den Olympischen Spielen für Frankreich als Sprinterin angetreten ist. Von dieser Herausforderung berichtete Parisot eindrucksvoll, um darzulegen, wie Resilienz auf der individuellen und kollektiven Ebene – hier am Beispiel Staffellauf – zu besonderen Leistungen führen kann. Sie betonte dabei immer wieder die Rolle des mentalen Trainings, das sie absolviert hat, die wichtige Kommunikation mit ihrem Coach und das auf individuellen Stärken basierende Zusammenspiel im Team. 

Insgesamt hatte der Vortrag den Charakter einer Überzeugungsvorhabens: Resilienz sei auf allen Ebenen - individuell, kollektiv und institutionell – organisierbar und trainierbar, was mit den bekannten Argumenten über Fehler- und Feedbackkultur, der Etablierung eines Changemanagements, Schulungen über psychische Gesundheit und die Schaffung gemeinsamer Werte im Team konkretisiert wurde. Leider konnten die Referentinnen Massnahmen in ihrem Unternehmen nur wenig spezifizieren und diese auch nicht mit Wirkungsanalysen fundieren; die Ausführungen blieben so auf einer allgemeinen Ebene. Dies kann für einige Unternehmen akzeptabel sein, dennoch bleibt mit einer solchen Herangehensweise der Beitrag der BGM-Verantwortlichen für den Unternehmenserfolg eher abstrakt und hinterlässt bestenfalls den Eindruck eines «Feelgood-Managements». 

Take-five bei Swisscom 

Anders stellte sich ein Praxisfall bei der Swisscom dar. Die Betriebswirtin Anja Peter (Human Empowerment Center AG) begleitet die Swisscom bei dem sogenannten Take-five-Programm. Take-five bezeichnet fünf wichtige Resilienzfaktoren: Akzeptanz der Situation, Beziehungsgestaltung, Emotionale Balance, Übernehmen von Verantwortung und Gestaltung von Zukunft. Diese Faktoren bilden den thematischen Rahmen für fünf Trainingsmodule, die im Abstand von 4 – 6 Wochen von Führungskräften absolviert werden. Die Referentin berichtete, dass die interaktiven Übungen in diesen Modulen häufig neue Perspektiven eröffneten und den Teilnehmenden neue Gesprächsthemen und -tiefen biete. Sie beobachte dabei tendenziell generationale Unterschiede: Junge Menschen verhielten sich aufgeschlossener, während ältere Menschen weniger über ihre Kraftquellen sprächen.  

Anja Peter Anja Peter

Die Psychologin Sarah Gedik hat im Rahmen ihrer Masterarbeit eine Wirksamkeitsanalyse zu diesem Trainingsprogramm durchgeführt. Dazu wurden unter den Teilnehmenden Befragungen einmal vor, dann direkt nach und ein drittes Mal vier Wochen nach der Schulung durchgeführt. Den 84 Führungskräften wurden jeweils die gleichen Fragen gestellt, in denen sie sich selbst einschätzen konnten. Im Ergebnis zeigten sich signifikante Zuwächse in den Themen Selbstwirksamkeit, Perspektivenwechsel und Durchhaltevermögen. Die Teilnehmenden berichten, dass sie besser abschalten könnten, gelassener seien und eine effizientere Arbeitsweise hätten. Das Ergebnis zeige, so Gedik, dass das Training die Resilienz-Kapazitäten verstärkt habe, Resilienz also erlernbar sei. 

Resilienz ins Team tragen 

Resilienz ist bei der Swisscom ein Bestandteil einer umfassenden BGM-Strategie, die mehrere Programme umfasst. Anja Peters erläuterte dabei die Friendly-Workspace-Zertifizierung, die regelmässig wiederholt werde. Auf der Ebene der Teams gebe es ein Health-Cockpit, in dem Stressoren für Teams analysiert, Massnahmen geplant und deren Wirksamkeit überprüft würden. Die Massnahmen könnten breit gefächert Resilienzthemen, Persönlichkeitsanalysen zur Bewusstmachung persönlicher Stärken und andere individuelle Teamthemen umfassen. Auf diese Weise solle Resilienz auch in die Teams getragen werden. 

Quelle 

Der Artikel und die Zitate beruhen auf der 20. Nationalen Tagung für betriebliches Gesundheitsmanagement 2024 am 18. September 2024 in Bern. 

Take Aways

  • Veränderungsdynamiken stellen hohe Anforderungen an die individuelle Resilienz. Im Berufsleben wird Resilienz von den sozialen und konkreten Arbeitsbedingungen im Unternehmen geprägt. 
  • Die BGM-Tagung 2024 unterstrich, was im Zusammenhang mit Forschungen aus der Arbeitspsychologie schon lange bekannt ist: Resilienz kann auf allen Ebenen – Individuum, Team, Organisation – gefördert werden.  
  • Nachhaltigkeit entfaltet sich jedoch nur durch Kontinuität, mit einer Stringenz von Werten und Haltungen in allen Führungsebenen und durch Vorbildhandeln. 
  • Dashboards sollten sicherstellen, dass die Wirkung von Massnahmen ausgewertet und neuen Erfordernissen angepasst werden. 

Mut zum Leben

Martin Inderbitzin beschreibt in seinem Buch die Zusammenhänge zwischen Gehirn, Emotion und Verhalten in einfachen, humorvollen Worten. Es enthält viele kleine Übungen, die helfen, neue Perspektiven zu entwickeln und sich selbst zu unterstützen. Mehr dazu hier.

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