Dies bedauerte auch Philomena Colatrella, CEO des Krankenversicherers CSS. Sie stellte eine Auswertung der Gesundheitskostenentwicklung bei der CSS dar und brachte eine Überraschung mit: Kostentreiber ist nicht die ältere Bevölkerung (siehe Grafik). «Die Entwicklung der Gesundheitskosten scheint eine unerschütterliche Konstante zu sein», sagt sie, «denn auch schon in den Zeiten, als es noch keine obligatorischen Krankenversicherungen gab, sind die Kosten ständig gestiegen.» Die Alterung der Gesellschaft könne den Kostenanstieg nur zu 1/7 erklären. Insgesamt sei die Antwort auf die Frage nach dessen Treibern komplex. Einerseits gebe es steigende Kosten für Medikamentenbezüge. Auch fragten mehr Menschen Leistungen nach. Ebenso seien die zunehmenden psychischen Probleme junger Menschen Kostenfaktoren. Colatrella schloss mit einem starken Plädoyer für eine zentralisierte Datensammlung über Diagnosen, Therapien und Outcomes. Man wisse heute zu wenig über die eigentlichen Kostentreiber. Nur mithilfe granularer, standardisierter Daten, die maschinell ausgewertet würden, könnten vertiefte Schlussfolgerungen ermöglicht werden.
Anne Lévy (Bild oben), Direktorin Bundesamt für Gesundheit, resümierte in ähnlicher Manier zu den Themen Über-, Unter- und Fehlversorgung im Gesundheitswesen. Sie stellten potenzielle Risiken für Menschen dar. Lévy verwies in einem Beispiel auf die Daten des Versorgungsatlas Schweiz (versorgungsatlas.ch), in dem genau ausgeführt wird, wie viele Behandlungen zu bestimmten Indikationen welcher Art in welcher Region stattfinden. Da gebe es Ungereimtheiten, wenn beispielsweise bestimmte Operationen in manchen Regionen der Schweiz überproportional häufig stattfänden als in anderen. Es sei nicht Sache des BAG, über Behandlungsleitlinien zu urteilen, aber es sei wichtig, eine angemessene Versorgung zu gewährleisten. Nicht alles, was medizinisch machbar sei, sei auch angemessen und sinnvoll. Die Digitalisierung biete Chancen, um eine angemessenere Versorgung zu gewährleisten. «Forever young ist nicht das Ziel, sondern eine kluge Nutzung von Innovation, um zufrieden, gesund und mit hoher Lebensqualität alt werden zu können», schloss sie.
Zur allgemeinen Erheiterung des Auditoriums konnten sich die Referentinnen und Referenten den einen oder anderen Seitenhieb auf die missglückte Einführung des elektronischen Patientendossiers nicht verkneifen. Dass man nun unisono von Seiten der Leistungserbringer, Bund und Versicherern ein klares Bekenntnis zur Datensammlung vernimmt, lässt auf einen wiedergewonnenen Schwung für dessen Einführung hoffen.
Gesellschaftliche Verantwortung und Langlebigkeit
Die gesellschaftliche Verantwortung für erfolgreiches Altern machte der Vortrag der Japan-Expertin Nora Gilgen deutlich. Die sozialen Herausforderungen im Land mit der höchsten Lebenserwartung der Welt seien enorm. 35% der Bevölkerung seien 60 Jahre oder älter. Die Geburtenraten sänken, die Zuwanderung sei niedrig. Das Altern der Babyboomer-Generation werde begleitet von fortschreitender Prekarisierung, die Nettoersatzrate betrage 38.8% (vgl.: in den OECD-Staaten 61.4%). Da die staatliche Rente nicht ausreiche, um minimale Lebenshaltungskosten zu decken, müssten viele Pensionärinnen über das Rentenalter von 65 hinaus arbeiten. Auch in der Berufstätigkeit würden ältere Menschen benachteiligt, indem man ihnen unterqualifizierte Tätigkeiten zuweise und sie niedrig bezahle. Die Vorbehalte japanischer Unternehmen gegen die Anstellung von Senioren seien trotz des Arbeitskräftemangels stark verbreitet, führte die Referentin aus. Dieser sei auch in der Pflege feststellbar, die wenig attraktive Anstellungsbedingungen biete.
Dieses trübe Schlaglicht auf die Situation in Japan ist eine Mahnung, wie sehr eine Gesellschaft gefordert ist, vor dem Hintergrund einer langen Lebenserwartung tragfähige, würdevolle Konzepte zur sozialen Sicherheit, Gesundheitsvorsorge und beruflichen Integration auch im Alter zu entwickeln.
Quelle: Die Zitate beruhen auf Referaten anlässlich der Trendtage Gesundheit Luzern 2024 am 6. und 7. März 2024.
Take Aways
- Gesunde Langlebigkeit erfordert eine verstärkte Einbindung älterer Menschen in soziale Aktivitäten und wertgeschätzte Tätigkeiten, um deren Lebensqualität zu verbessern.
- Die Verfügbarkeit von Datenpools über Gesundheits- und Lebensstildaten ist entscheidend, um effektive Massnahmen zur Unterstützung der Gesundheit älterer Menschen zu identifizieren und Kostenentwicklungen im Gesundheitswesen zu verstehen.
- Die gesellschaftliche Verantwortung für erfolgreiches Altern umfasst die Schaffung von tragfähigen Konzepten zur sozialen Sicherheit, Gesundheitsvorsorge und beruflichen Integration älterer Menschen.
- Expertinnen und Experten aus dem Gesundheitsbereich fordern Datenpools, die sowohl Lebensstil- als auch medizinische Daten als Grundlage zur Erforschung von medizinischen Wirkmechanismen und Therapien sammeln.