Wenn man sich nicht mehr spüren darf oder will, weil es als unangenehm empfunden wird, bedeutet dies letztlich, dass das Erleben insgesamt völlig eingeschränkt ist und man nur noch eine funktionierende Hülle ist. Und dies ist etwas, was Menschen oft erzählen: Sie haben keinen Zugang mehr zu sich selbst und fühlen sich völlig fremd. Sie beschreiben es manchmal mit den Worten: «Ich habe keine Heimat.» Die Menschen fühlen sich in sich selbst und ihrem Körper fremd.
Häufige Aussagen sind auch: «Ich war wie in einer Isolierzelle» oder: «Um mich herum war eine riesige Mauer», eine Mauer, die den Kontakt zu anderen blockiert, hinter der man sich aber auch verstecken kann, um nicht gesehen zu werden.
In welchem Verhalten wird so etwas für Aussenstehende sichtbar?
Das Schwierige ist, dass die Vermeidung dazu führt, dass Aussenstehende das Signal erhalten, besser nicht hinzuschauen. Dieses Signal «Schau mich nicht an!» wird von Betroffenen ausgesendet. Gleichzeitig gibt es eine grosse Sehnsucht, bemerkt zu werden. Wir nehmen eine starre Körperhaltung, einen gesenkten Blick, eine leise Sprache wahr. Ein Betroffener erzählte mir, dass er sich so «unsichtbar» machte, dass er noch nicht einmal bei der Fahrkartenkontrolle im Zug bemerkt wurde.
Bei einer chronifizierten Form der Scham gibt es starke Selbstwertprobleme und Selbstverunsicherung, quälende Selbstvorwürfe und ein Kreisen um die eigenen Gedanken, was verhindert, dass man sich auf andere einlassen kann. Krankheitsscham geht in Resonanz. Kontakte werden massgeblich erschwert. Das merken die anderen Menschen und gehen auf Distanz.
Es gibt aber auch ein gegenteiliges Verhalten, bei dem jemand Scham völlig ignoriert und eben schamlos wird. So jemand poltert vielleicht laut im Raum oder macht Witze über Krankheiten. Auch dies hält das Gegenüber auf Distanz, denn man wird ja peinlich berührt.
Gibt es typische Folgen der Krankheitsscham im Arbeitskontext?
Wenn man sich selbst nicht eingestehen will, dass man krank ist, weil man sich dafür schämt, dann kommt es zu einer Verleugnung. Die Person will auf ihre Krankheit nicht angesprochen werden. Manche Mitarbeitende kompensieren ihre Scham auch über eine hohe Leistungsbereitschaft, die die Krankheit vertuschen soll.
Es gibt doch viele Krankheiten, die mit Stigmatisierung und Scham verbunden sind: Krebs, Diabetes, Über- oder Untergewicht …
…oder posttraumatische Belastungsstörungen oder Entwicklungstraumata. Menschen verstehen ihre Scham häufig nicht, auch wenn sie die Symptome wie Herzrasen, Schwindel oder Übelkeit beschreiben können. Wenn diese immer wieder auftauchen, heisst es im Arbeitsumfeld häufig, dass da jemand «krank macht», also simuliert.
Es gibt zum einen die Ursachen für die Entwicklung von Scham, die in der persönlichen Biografie liegen. Beispielsweise Schulderfahrungen, Bindungsprobleme in schwierigen Familien oder transgenerationale Weitergaben. In der Familie gilt vielleicht traditionell Krankheit als Schwäche.
Problematisch ist zum anderen in vielen Bereichen auch der Umgang mit Gesundheit. Gesundheit scheint machbar. Man trägt dafür die Verantwortung und fragt sich im Falle einer Diagnose: «Was habe ich falsch gemacht?» Man fühlt sich als Versager. Darunter liegt noch die Verdrängung, dass wir in unserer fortschrittlichen Gesellschaft die Vergänglichkeit nicht besiegen können, die Verdrängung von Tod.
Was kann man im Unternehmen als personalverantwortliche Person tun, um Menschen zu erreichen, die sich in der Krankheitssituation abkapseln?
Wenn man in einen Dialog gehen kann, verbessert man die Chancen, Arbeitskraft zu erhalten. Natürlich müssen die Erkrankten ein Stück Selbstreflexion leisten, um dann über ihre Erkrankung offener sprechen zu können. Wer verdrängt, hat damit ein Problem, denn jedes Ansprechen des Themas kann schon eine Kränkung bedeuten.
Es ist hilfreich, individuell auf die Person einzugehen. Als Vorgesetzte fragt man besser, was die betroffene Person kann, statt was sie nicht kann. Die noch möglichen Leistungen sollte man wertschätzen. Gemeinsam sollten Teamleiter und Erkrankte erörtern, unter welchen Arbeitsbedingungen eine zuverlässige Leistung erbracht werden kann. Hier ist Flexibilität im Unternehmen gefordert.
Auch die Würdigung einer konstruktiven Mitwirkung der erkrankten Person bei der Ausgestaltung passender Arbeitsbedingungen wirkt vertrauensbildend und fördert die Offenheit. Dann kann die Krankheitsscham in den Hintergrund treten und die Reintegration wird möglich.
Ein Gespräch darüber, was möglich ist, ist leider noch keine Selbstverständlichkeit. Häufig kommen Klienten zu mir, die sich unter Druck gesetzt fühlen. In manchen Berufen kommt Krankheit bei der Kalkulation des Personalschlüssels einfach nicht vor, beispielsweise im Kindergarten oder in der Pflege.