Mental Health: Coaching oder Psychotherapie?

Freitag, 02. Juni 2023 - Karen Heidl
Stressoren sind das Resultat einer negativen Energiebilanz, die im Gehirn ­aufgrund von Wechselwirkungen entsteht. Welche Rolle Prävention, Coaching und Psychotherapie im Umgang mit Stress spielen können, zeigten ein Vortrag und ein kurzes Panel anlässlich der Trendtage Gesundheit Luzern.

In seinem Referat «Wie das Gehirn aus Stress Schmerz macht» zeigte Professor Ulrich T. Egle, Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie im Sanatorium Kilchberg, anhand der Funktionsweise des Gehirns, wie Biografie, Krankheit, Krankheitserleben und ganzheitliche Therapieansätze zusammenwirken. «Wenn das Gehirn so arbeiten würde, wie man sich das jahrhundertelang vorgestellt hat, würde man ständig essen», erläuterte Ulrich T. Egle den Energieaufwand, der dafür notwendig wäre. Energieökonomischer sei es für das Gehirn, mit vorgefertigten Erwartungen auf äussere Reize zu reagieren, statt jeden Reiz von Grund auf neu interpretieren zu müssen.

Diese Erwartungen werden im limbischen System des Gehirns erzeugt, das über unbewusste Vorgänge Wahrnehmungen steuert. Die zugrundeliegenden Erwartungshaltungen sind das Resultat verschiedener Faktoren wie der körperlichen Verfassung, der sozialen Situation oder der emotionalen Verfassung. Biografische Lernprozesse, besonders aus Kindheit und Jugend, prägen die Art und Weise, wie Haltungen entwickelt werden – ob man beispielsweise eher misstrauisch oder vertrauensvoll ist. All diese Faktoren prägen die Gesamtverfassung, so Egle.

Die vom Gehirn auf dieser komplexen Basis gebildeten Hypothesen treffen dann auf Abweichungen zum tatsächlich Eintretenden. Das Gehirn begegnet diesem Delta mit Kompromissbildungen. Je stärker der von aussen kommende Input mit den eigenen Erwartungen überlappe, umso geringer sei der Energieaufwand im Gehirn, um diesen zu verarbeiten. Wenn Erwartungen jedoch häufig auf Ereignisse treffen, die von diesen weit abweichen, werde mehr Energie benötigt. Studien haben gezeigt, dass eine solche Situation sogar Alterungsprozesse beschleunige, führte Egle weiter aus.

Kumulative Stressbelastung ist messbar

Die psychosomatische Medizin widmet sich den biopsychosozialen Dimensionen im Hinblick auf die individuelle Stressanfälligkeit. Dazu könne man heute die sogenannte «allostatische Last» eines Menschen analysieren. Die allostatische Last ist ein physiologisches Mass für die kumulative Stressbelastung des Körpers, die anhand von Markern in Laborwerten für physiologische Dysregulationen gemessen wird. Es wird also das biologische Risiko für Gesundheitsprobleme quantifiziert. Die Marker repräsentieren vier biologische Systeme: Herz-Kreislauf-, Stoffwechsel-, entzündliche und neuroendokrine Systeme.

Oder wie es Prof. Egle ausdrückt: Bei der Analyse der allostatischen Last handelt es sich um ein Verfahren, mit dem festgestellt werden kann, wieweit Stress, den ein Mensch im Laufe seines Lebens erfahren hat, auf seine körperliche Verfassung Einfluss genommen hat. In der Psychotherapie gehe es darum, Patienten diese psychosomatischen Befunde näherzubringen und ihnen dabei zu helfen, damit umzugehen. Beim Coaching dagegen gehe es häufig um Selbstoptimierung, um Förderung der Stressresistenz. Dies stehe in der Regel im Kontext betrieblicher Anforderungen am Arbeitsplatz. Die Zielsetzungen seien also sehr unterschiedlich.

Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt

In einer Diskussion über psychische Gesundheit in dynamischen Unternehmensumgebungen am Folgetag der Veranstaltung zeigte sich, dass Coaching durchaus Anstösse für Prävention geben kann. Die Diskutantinnen berichteten von ihren persönlichen Herausforderungen beim verantwortungsvollen Selbstmanagement. «Man kann nicht nur immer auf Ferien warten. Aber so funktioniert das Leben nicht. Das Leben passiert jeden Tag», brachte Katrien De Vos, Geschäftsführerin Astra Zeneca Schweiz, ihre achtsame Lebenshaltung auf den Punkt. Täglich Zeit nur für sich selbst einzuplanen, sei ihr eine hilfreiche Routine. Mitunter seien es Krisen im sozialen Umfeld, die einem diese Eigenverantwortung wieder bewusst machten. Myriam Elena DeLeone, Geschäftsführerin Amgen Schweiz, wurde von einem Coach angeregt, bewusst Energiequellen ausserhalb des Jobs zu etablieren. Innerhalb des Unternehmens sei vor allem ein Team, das sich gegenseitig die Bälle zuspiele, eine wichtige Unterstützung in anspruchsvollen Zeiten. Empowerment spiele dafür eine zentrale Rolle. Gabriele Grom, Public Policy Lead, Mid-Europa Region MSD, betonte, dass ein gesundheitsförderndes Unternehmen die Abgrenzung von Arbeit und Freizeit unterstützen müsse. E-Mail-freie Wochenenden und ungestörte Ferien gehörten beispielsweise dazu.

Fazit

Das Panel demonstrierte in dieser offenen Diskussion und Schilderung persönlicher Einsichten vor allem, wie wichtig gute Vorbilder in der Führung sind. Über Gesundheit zu sprechen und ein achtsames Selbstmanagement als professionelle Anforderung zu formulieren, entsprechende Regularien zu schaffen, die die Abgrenzung von Arbeit und privater Zeit zu unterstützen, aber auch Coaches zur Seite zu stellen, die beratende Funktionen wahrnehmen können – all dies sind zielführende präventive Massnahmen. Wiederkehrende Schmerzen, Störungen oder Erkrankungen können und sollten als Signale verstanden werden, die eigene Gesamtverfassung mit all ihren Bedingungsfaktoren zu reflektieren.

Quelle

Der Beitrag basiert auf dem Vortrag von Prof. Ulrich T. Egle «Was das Gehirn aus Schmerz macht» vom 22. März 2023 und der Panel­diskussion zum Thema «Mental Health and Wellbeing in a fast-paced business environment» am 23. März 2023.

Take Aways

  • Das Gehirn steuert Wahrnehmungen über Erwartungen. Diese sind das Resultat verschiedener Faktoren, wie der körperlichen Verfassung, der sozialen Situation oder der emotionalen Verfassung.
  • Biografische Lernprozesse, besonders aus Kindheit und Jugend, prägen die Art und Weise, wie Haltungen entwickelt werden.
  • All diese Faktoren prägen die Gesamt­verfassung eines Menschen nach dem biopsychosozialen Modell.
  • Psychotherapie kann Patienten bei der Verbesserung ihrer Gesamtverfassung unterstützen.
  • Im Coaching können präventiv Anregungen gegeben werden, die sich positiv auf die Gesamtverfassung auswirken können. Bei psychosomatischen ­Beschwerden ersetzt ein Coach aber nicht die therapeutische Fachperson.
  • Ein achtsames Selbstmanagement gehört zum Vorbildhandeln als Führungskraft.

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