«Grundsätzlich ist ein Beziehungsaufbau, also die zwischenmenschliche Interaktion, in beiden Coaching-Settings möglich.»
Zur Person
Dr. Imke Knafla ist Psychologin, Dozentin und Beraterin an der ZHAW Zürich. Sie leitet den Studiengang MAS Systemische Beratung und in Co-Leitung das Zentrum für Klinische Psychologie und Psychotherapie.
Frau Dr. Knafla, gibt es Wirkunterschiede zwischen digitalen, videogestützten Coachings und Präsenz-Coachings?
Wenn es eine regelmässige videogestützte Kommunikation mit einem Coach gibt, sind die Wirkungen mit Präsenz-Coaching im Allgemeinen vergleichbar. Es gibt bestimmte Einschränkungen, die daher rühren, dass nonverbaler Ausdruck über Körpersprache nicht so gut wahrnehmbar ist. Bestimmte Reaktionen wie zum Beispiel nervöses Wippen mit den Beinen oder schnelle Atmung sind per Video nicht so leicht zu erfassen. Dies macht das Video-Coaching herausfordernder, weil diese nonverbalen Informationen weniger gut vermittelt werden können. Gleichzeitig machen wir die Erfahrung, dass erstaunlich viel sehr gut auch in einem Videosetting funktioniert.
Besonders hervorzuheben sind ergänzende Angebote, sogenannte Blended-Formate, in denen verschiedene Reflexionsformen gemischt werden, also Gespräche per Video oder auch im direkten Kontakt, gemischt mit digitalen Sitzungen bzw. «Hausaufgaben», die Coachees alleine durchführen.
Trotz dieser guten Erfahrungen gibt es Coaches, die auf Präsenz schwören, gerade weil nonverbale Signale leichter zu lesen sind.
Wie steht es mit dem Beziehungsaufbau in einem digitalen Setting im Vergleich zu einem Präsenz-Setting?
Grundsätzlich ist ein Beziehungsaufbau, also die zwischenmenschliche Interaktion, in beiden Coaching-Szenarien möglich. Sie sieht zum Teil anders aus. In einem Präsenz-Setting kann man beispielsweise etwas zu trinken anbieten oder den Mantel abnehmen und so den Beziehungsaufbau unterstützen. Online gibt es andere Möglichkeiten, die bei Präsenzsitzungen nicht zur Verfügung stehen: Vielleicht läuft einmal ein Kind durchs Bild oder man schaut in die Wohnumgebung des Gegenübers. Diese Eindrücke vermitteln ebenfalls Informationen, die einem im Präsenzszenario in der Praxis verborgen geblieben wären. Insgesamt viel wichtiger sind aber die Haltung, das genaue Zuhören und das Verstehen sowie der Ausdruck dessen, und dies ist in beiden Settings möglich.
Im digitalen Setting gibt es häufig weniger Hemmschwellen und mehr Bereitschaft zur Selbstoffenbarung. Je anonymisierter die Beratung ist, umso offener sind manche Menschen auch und fallen mitunter direkt mit der Tür ins Haus, auch bei schwierigen Themen. Gerade junge Leute sind in anonymisierten Settings häufig sehr direkt.
Grundbedingung für einen gelingenden Beziehungsaufbau ist, dass man sich im digitalen Setting wirklich wohlfühlt.
Deshalb spielen auch die technischen Bedingungen eine Rolle: Eine gute Internetverbindung ist sehr wichtig; eine intuitive Benutzerumgebung fördert ebenfalls die Akzeptanz für die digitale Situation. Ein sicherer Umgang mit der Videosoftware und den spezifischen Tools ist eine wichtige Voraussetzung im digitalen Coaching. Dazu muss der Umgang mit der Technik beherrscht werden. Dies gilt sowohl für Coach als auch Coachee.
Aber auch wenn diese Tools heute Corona-bedingt breiter genutzt werden, gibt es auch jetzt im Lockdown Personen, die explizit Präsenzsitzungen wünschen.
Welche Gründe werden in solchen Fällen genannt?
Für viele Menschen haben persönliche Treffen eine andere Bedeutung. Der bewusste Ortswechsel und der Weg zum Coaching sind für manche Menschen wichtig. Es hat für sie einen anderen Wert, als sich schnell zwischen zwei anderen Aufgaben am Computer in eine Videositzung zu klicken.
Gibt es Fälle, wo Sie von digitalen Coachings oder Beratungen abraten?
Beispielsweise würde ich bei emotionsvertiefenden Interventionen von Video-Coaching abraten, denn man kann niemals vorhersagen, was beim Gegenüber ausgelöst wird. In Gesprächssituationen, die bei Klienten und Klientinnen heftige Gefühle hervorrufen, habe ich immer wieder erlebt, dass sie plötzlich den Bildschirm ausstellen und man sie weinen hört. Dies ist durchaus ein Vorteil der Videointervention. Das Gegenüber kann sich zurückziehen und fühlt sich nicht so exponiert. Trotzdem würde ich von emotionalen Vertiefungen per Video eher abraten. Auch bei traumatisierten Klienten und Klientinnen oder bei Verdacht auf Suizid ist es wichtig, das Gegenüber als ganzen Menschen wahrzunehmen und die Person auch wieder auffangen zu können, wenn etwas ausgelöst wurde. Dies ist in einer Präsenzsitzung einfacher. Zudem ist die Technik auch nicht immer zuverlässig und kann unter Umständen solch schwierige Situationen stören.
Man hat in einer Präsenzsitzung auch mehr Möglichkeiten, direkt auf die Klienten und Klientinnen einzuwirken. So kann man beispielsweise gemeinsame Atemübungen machen und so mit persönlicher Nähe unterstützen.
Könnten Sie sich vorstellen, dass die kritische Haltung gegenüber digitalen Interventionen bald der Vergangenheit angehört?
Man hat jetzt in der Coronapandemie gesehen, wie gut videogestützte Beratung funktionieren kann. Deswegen wird Präsenzberatung aber in Zukunft nicht aufgegeben.
Video bietet viele Vorteile, vor allem bestimmte Zielgruppen haben so bessere Chancen, eine Beratung zu erhalten – ich denke zum Beispiel an Menschen mit eingeschränktem Bewegungsradius oder Menschen auf dem Land, wo es wenige Psychotherapeuten oder Coaches gibt.
Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Blended-Formate, also Mischungen zwischen Präsenz- und Online-Settings und -Methoden, zukünftig verstärkt eingesetzt werden.
Hinter der Frage, in welchem Setting das Coaching stattfinden soll und mit welchen Tools und Methoden gearbeitet wird, stecken didaktische Überlegungen: Es geht immer darum, wen man mit welchen Formen am besten erreichen kann. Menschen haben unterschiedliche Präferenzen. Aber solange sie sich im gewählten Setting wohlfühlen, können vergleichbar gute Ergebnisse erzielt werden.