Wenn der Akku einfach leer bleibt - Wiedereingliederung mit Long Covid

Dienstag, 05. April 2022 - Claudio Zemp
Long-Covid bleibt eine Herausforderung für Betroffene, Ärzte und die Gesellschaft. Dr. Gregory Fretz erklärt im Gespräch, was man heute über Long Covid weiss, wie die Krankheit verläuft und warum die berufliche Wiedereingliederung herausfordernd sein kann.
Was ist Long-Covid?

Wir sprechen eher vom Post-Covid-Syndrom. Betroffen ist, wer länger als 12 Wochen nach einem akuten Infekt noch Symptome hat.

Welche Symptome sind am häufigsten?

Die Patienten hatten meist einen milden Verlauf. Mild heisst, dass sie nicht ins Spital mussten, sondern die Krankheit zuhause auskurieren konnten. Es sind typischerweise junge Patientinnen, rund zwei Drittel sind Frauen. Wenn wir uns auf diese Gruppe beschränken, die vorher typischerweise gesund war, dann sind die häufigsten Symptome neuro-kognitiver Art. Sie haben Konzentrations- und Gedächtnis-Schwierigkeiten. Sie beschreiben ein Gefühl eines Hirnnebels, als hätten sie immer einen Kater, sie erholen sich nicht mehr richtig. Sie haben Schlafstörungen. Ganz häufig ist Atemnot, die typischerweise nicht messbar ist in der Lungenfunktion. Sie haben auch Schmerzen: extreme Muskelschmerzen, Gliederschmerzen, Kopfschmerzen. Und dann klagen sie über eine bleierne Müdigkeit. Der Akku ist fast leer und wird nicht mehr voll, egal was sie tun. Dies ist verbunden mit kognitiver-körperlicher Leistungsintoleranz. Gewisse schwer Betroffene gehen noch 200 Meter und dann geht einfach nichts mehr; für den Rest des Tages liegen sie nur noch im Bett. Das sind die schweren Fälle, die vorher oft gesund, sportlich und es gewohnt waren, viel zu leisten.

Sie hatten vor Corona eine Sprechstunde für das «Chronic Fatigue Syndrom» (CFS). Inwiefern konnten Sie auf dieser Erfahrung aufbauen?

Das Krankheitsbild ist ähnlich. Einerseits konnten wir profitieren von gewissen Therapiekonzepten, die wir schon hatten für CFS, zum Beispiel bei den Themen Energiemanagement und Pacing. Andererseits haben wir nun nochmals auch aufgrund des grossen Andrangs in der Sprechstunde recht viel gelernt im Umgang mit Long-Covid-Betroffenen. Dies kommt dann wieder den CFS-Patientinnen und -Patienten zu Gute. Wir konnten unser Ergotherapie-Netz nutzen und in der Physiotherapie gewisse Sachen übernehmen.

Hier in der Poliklinik behandeln Sie ausschliesslich ambulant, niemand bleibt stationär im Spital. Wie läuft das ab?

Es gibt zwei Gruppen. Praktisch alle Patientinnen und Patienten werden uns von ihrem Hausarzt zugewiesen. Es gibt diejenigen, die vorher schon sehr breit abgeklärt wurden. Sie waren zuvor schon beim Herzspezialisten, beim Lungenspezialisten und beim Neurologen und haben viele Untersuchungen von EKG über Herz-Ultraschall über Lungenfunktion bis zur Bildgebung vom Kopf absolviert. Die andere Gruppe kommt mit diesen Symptomen und ist noch relativ unabgeklärt. Bei allen nehmen wir uns das erste Mal viel Zeit für die Sprechstunde – mindestens eine Stunde. Wir führen vorab gewisse Tests wie Blutdruck- und Pulsmessungen durch. Wir machen bei fast allen ein breites Labor. Das sind die Grundabklärungen.

War die ganze Infrastruktur schon komplett eingerichtet, bevor Corona kam?

Sie war nicht ausgelegt auf diese Anzahl von Betroffenen, weil CFS nicht extrem häufig und etwas untererkannt ist. Es gibt nicht viele Anlaufstellen dafür in der Schweiz. Deshalb war dies keine besonders intensiv nachgefragte Sprechstunde. Sie wurde dann aber überrannt von Long-Covid-Betroffenen. Wir hatten zwar gewisse Strukturen, aber wir haben nicht die Ressourcen, um der Nachfrage gerecht zu werden.

Wie sind die Heilungschancen?

Wir haben hier eine Verzerrung, einen Bias, weil viele Betroffene hierherkommen, die relativ schwer betroffen sind und deshalb statistisch gesehen nicht ganz den Normalverlauf abbilden. Dieser zeigt, dass sich viele Patienten verbessern und wieder erholen. Zum Teil zieht sich dies allerdings über Monate, bis eineinhalb Jahre. Es braucht bei vielen, die schwer betroffen sind, relativ viel Zeit und Therapie, bis sich eine Verbesserung einstellt. Konkret haben wir heute noch Patienten, die zu den ersten gehörten und die immer noch schwere Symptome haben; das gibt es auch.

Gibt es international gesehen Unterschiede bei Inzidenz und Verlauf?

Die Aussagen zur Häufigkeit gehen extrem auseinander. Dies hängt nicht einmal so sehr davon ab, in welchem Land die jeweilige Studie durchgeführt wird, sondern von der Art der Studie: Wie man die Leute befragt und was man sie fragt. Die Daten werden auch nicht immer korreliert damit, was die Krankheit für Auswirkungen auf die Lebensqualität hat. Ist jemand arbeitsfähig? Wie geht das Sozialleben? Am Anfang gingen die Schätzungen von 10% bis über 50% von Leuten, die nach sechs Monaten noch Symptome haben. In der Schweiz haben wir mittlerweile gute Daten. In Zürich gibt es Milo Puhan, der diese Erkrankung gut verfolgt. Die Daten konstatieren rund 20% der Betroffenen, die nach 6 bis 8 Monaten noch Symptome haben. Auch dies sind zum Glück nicht alles Schwerbetroffene, also solche, die wirklich relevante Einschränkungen in ihrem Leben haben und etwa nicht arbeiten können. Aber bei dieser grossen Anzahl von Covid-Fällen ist das immer noch eine Zahl, die uns beschäftigen wird, selbst wenn es sich «nur» um 2 bis 3 % handelt.

Nützen eigentlich die präventiven Massnahmen oder gibt es Gründe, an der Wirksamkeit von Masken, Abständen, Händewaschen oder Impfungen zu zweifeln?

Ja, das nützt. Wer kein Covid kriegt, kann auch kein Long-Covid haben. Die beste Prävention ist, sich nicht anzustecken. Es gibt nun auch erste Daten, die zeigen, dass die Impfung hilft. Wer geimpft ist und Covid erwischt, dessen Wahrscheinlichkeit für Long-Covid ist um rund 50% reduziert.

«Wer geimpft ist und
Covid erwischt, dessen Wahrscheinlichkeit
für Long-Covid ist
um rund 50% reduziert.»
Wie behandeln Sie die Patientinnen und Patienten?

Die nicht-pharmakologischen Therapien stehen im Vordergrund. Dort wissen wir mittlerweile wirklich, was hilft. Manche sagen, sie schaffen keine 100 Meter Spaziergang. Wenn der Akku ganz leer ist, gibt es häufig eine Verschlechterung der Symptome: Müdigkeit, Schmerzen, Hirnnebel, Kopfweh und so weiter. Dies kann auch die Krankheitsdauer negativ beeinflussen. Um dies zu verhindern, werden diese Leute alle im Energiemanagement geschult. Dort geht es sehr viel um Struktur: Wie plane ich meinen Tag? Was setze ich für Prioritäten? Wo schalte ich Pausen ein? Kurz: Inhaltlich relativ langweilig, aber sehr effizient, um die Symptome in Griff zu bekommen. Das ist die Basis. Ohne das Energiemanagement gibt es einfach niemanden, der sich verbessert.

Muss man lernen, dass man sich Sorge trägt?

Ja, man kann es vielleicht so sagen, wobei es sich für viele wie das Gegenteil anfühlt, weil die meisten Betroffenen es eigentlich gewohnt sind, sehr viel zu leisten. Die Patienten verstehen das alles zwar sehr schnell, aber das Umsetzen ist dann häufig nicht so einfach. Viele laufen immer wieder in Überanstrengungen und erleben dann einen Schub oder einen Crash, wie häufig gesagt wird.

Wichtig ist, dass man den Akku nie ganz leer gehen lassen soll?

Ja, so sagen wir das den Patienten. Wir haben auch ein eigenes Physiotherapieprogramm aufgestellt. Die klassische Physiotherapie, in der man relativ schnell eine starke Steigerung der Belastung herbeiführt, kann kontraproduktiv sein. Das heisst, man muss dort mehr passiv arbeiten, mehr auf Entspannungstechniken zurückgreifen.

Gibt es auch medikamentöse oder pharmakologische Behandlungen, die wirken?

Nein. Hier gibt es nur «Off Label», es gibt noch kein zugelassenes Mittel. Wir behandeln die Symptome, aber wir haben bis jetzt keine Therapie, um diese Krankheit ursächlich anzugehen. Es gibt Studien, die dazu laufen, aber bis jetzt gibt es noch kein Mittel.

Was sind die Erkenntnisse?

Medikamentös sehen wir gute Effekte für spezifische Symptome. Wir haben gute Medikamente für Kopfweh, für Muskelschmerzen, Schlafstörungen und für Leute, die sehr viel Angst haben oder eine Panikstörung entwickeln. Es gibt Leute, die sekundär eine Depression entwickeln. Alle diese Beschwerden können wir medikamentös behandeln, ohne aber dass wir die Krankheit deswegen zum Verschwinden bringen.

Was ist bei der Wiedereingliederung ins Berufsleben zu beachten?

Am Anfang gab es einige Patienten, die aufgelaufen sind. Es ging ihnen besser und sie fingen wieder an zu arbeiten, vielleicht auch mit einem Teilzeitpensum. Dann merkten sie aber, dass sich ihr Befinden verschlechterte und sie fielen wieder aus. Darum fangen wir bei den schwer Betroffenen, die über Wochen oder Monate von der Arbeit weg waren, langsam an, mit einem Arbeitspensum von vielleicht 10%. Das heisst zweimal zwei Stunden pro Woche. Das funktioniert mittlerweile extrem gut. Dies ist ja eine ziemlich ungewöhnliche Massnahme im Vergleich zu anderen Wiedereingliederungen. Mittlerweile ist dies aber akzeptiert worden und es gibt viele wohlwollende Arbeitgeber.

Was braucht es nebst der Kooperation mit dem Arbeitgeber, damit die Wiedereingliederung gelingt?

Aus meiner Erfahrung gibt es eine Patientengruppe, die den Job behalten kann und einfach lange krankgeschrieben ist. Sie hat oft intern einen Coach, der sie unterstützt. Nicht nur die Dauer der Arbeit ist wichtig. Häufig frisst Stress einfach extrem viel Enerige. Beim Wiedereinstieg in den Job versuchen wir in solchen Stressfällen dafür zu sorgen, dass die Patienten klar definierte Aufgaben zugewiesen bekommen. Zum Beispiel: Jemand beantwortet nur die Mails oder arbeitet ganz vorsichtig an einem Projekt.

Sie sprechen sich also bei der Wiedereingliederung für eine sehr langsame Vorgehensweise aus?

Ja, kleine und langsame Schritte sind wichtig. Wir gehen von 10 auf 20 und dann auf 40%. Und nach jedem Verlauf warten wir zu, bevor wir weiter steigern.

Wird Long-Covid weiterhin bestritten von den Versicherungen?

So wie ich das überblicke, gibt es mittlerweile Anmeldungen bei der IV. Viele haben sich bisher gar nicht angemeldet, weil sie nicht in diese Mühle geraten wollen. Sie haben Angst davor. Die Taggeldversicherung kann gleich wie die IV ein Gutachten in Auftrag geben. Das heisst, dass jemand, der betroffen ist, irgendwo zu einer zertifizierten Gutachterstelle geschickt wird, wo dann eine ausführliche Abklärung erfolgt. Meistens recht intensiv für die Betroffenen, irgendwo in der Schweiz. Man kann sich vorstellen, wenn jemand mit halbleeren Akkus von Chur nach Basel muss und dort sechs Stunden Abklärungen hat, ist das nicht sehr förderlich für die Genesung. Aber das ist ein anderes Thema. Auch kann es passieren, dass sich die Gutachter nicht mit dem Krankheitsbild auseinandergesetzt haben, andere Massstäbe zugrunde legen und auch zum Schluss kommen können, dass der begutachtete Patient arbeitsfähig ist.

Was würden Sie ändern?

Man müsste sich überlegen, Long Covid-Gutachten in einem Kompetenzzentrum zu zentralisieren; denn diese Krankheit ist noch so neu, dass es sinnvoll sein könnte, dass es zwei, drei Abklärungsstellen gibt, die sich damit auskennen.

Welche Fehler kann man vermeiden?

Dass man die Leute zu schnell, zu fest unter Druck setzt. Oder wenn man die Art der Arbeit nicht anpasst und in kurzer Zeit wieder sehr viele Aufgaben übernommen werden müssen. Da sollte man schon vorsichtig sein.

Welche Erfahrungen wurden bisher gemacht hinsichtlich irreparabler Nachwirkungen einer Covid-Infektion?

Genaue Zahlen kenne ich nicht. Aber es werden einige Betroffene bleiben, die nicht mehr zurück können in ihren Job. Und da es häufig relativ junge Leute sind, müssen wir eine Lösung finden für diese Menschen. Die Gesellschaft muss schauen, die Wiedereingliederung zu ermöglichen. Ich habe den Eindruck, dass sich die IV-Stellen bemühen.

Artikel teilen


Jederzeit top informiert!

Erhalten Sie alle News-Highlights direkt per Browser-Push und bleiben Sie immer auf dem Laufenden.

Folgen sie uns auf