In Ihrem Video «In Her Chair» wurden männlichen Schweizer CEO bekannter Unternehmen verstörende Fragen gestellt, mit denen sich Frauen in Bewerbungsgesprächen und im Arbeitsumfeld konfrontiert sehen. Dank der teilweise konsternierten Reaktionen der befragten CEO ist Ihnen damit ein medial vielbeachteter Beitrag und für Ihre Firma auch ein veritabler PR-Coup gelungen. Wie waren die Reaktionen auf das Video?
Das Video wurde fast 1 Million Mal angesehen, das ist unglaublich. Es wurde vor allem auf Linkedin geteilt. Die Reaktionen waren durchweg positiv. Humor ist das beste Mittel, um die Menschen zu erreichen und Gesellschaftsprobleme zu thematisieren. Die Frauen fanden das Video lustig, aber gleichzeitig auch traurig, weil ihre eigenen Erfahrungen zum Teil noch schlimmer sind. Sie begrüssten es, dass ich das Thema aufgegriffen habe. Einige (Männer und Frauen) meinten, sie würden in Zukunft vorsichtiger reagieren.
Wie sind Sie auf die Fragen gekommen, die Sie den CEO gestellt haben?
Als Headhunterin habe ich über 2000 Bewerbungsgespräche geführt. Dabei zeigte sich, dass die Fragen im Video auf realen Situationen basieren, die sich in der Praxis mehrfach ereignet haben. Es sind keine einmaligen Anekdoten.
Planen Sie ein weiteres Video?
Ja, ein neues Videoprojekt mit weiteren HR-Themen. Derzeit halten wir das Thema noch vertraulich, da der Überraschungseffekt ein Muss ist.
Haben Sie eine Erklärung für die hohe Burnout-Rate in der Schweiz?
Bei einem Schweizer KMU im Appenzell und einem globalen Hub in Zug sind die Ursachen für Burnout sehr unterschiedlich – die Arbeitswelt in der Schweiz hat viele Gesichter. Eine gemeinsame Beobachtung ist jedoch das Schweigen über Unwohlsein am Arbeitsplatz. Wenn Mitarbeitende sich schlecht fühlen oder Vorgesetzte sich missbräuchlich verhalten, gibt es oft eine unbewusste Tendenz, keine grossen Wellen zu schlagen. Dies nennt man Omission Bias: Die Idee, dass es besser ist, nichts zu sagen, um die Situation nicht zu verschlimmern. Diese unbewussten Bias sind der gemeinsame Nenner des Unwohlseins am Arbeitsplatz.
Wie gehen Sie bei der Suche nach einem geeigneten Kandidaten vor?
Etwa 90 Prozent der Erwerbstätigen sind offen für einen Jobwechsel. Als ich kürzlich eine Stelle als Head of Finance ausschrieb, erhielt ich rund 300 Lebensläufe. Davon sind etwa zehn brauchbar, vier kommen in die engere Auswahl und einer ist der Perfect Match. Wenn ich fünf passende Kandidatinnen und Kandidaten präsentieren möchte, muss ich aktiv nach ihnen suchen. Das mache ich über das Netzwerk. Ich frage gute Kandidierende nach deren Empfehlungen.
Wie beurteilen Sie die Nachfrage nach CFO?
Stabil. Ein Unternehmen braucht immer einen CFO. Die CFO der Zukunft ist jemand mit HR-Fähigkeiten, jemand, der nah am Team ist. Hierarchien sind passé. Was bleibt, sind unsere unbewussten Vorurteile. Die müssen wir uns bewusst machen und immer wieder korrigieren.
Wie äussern sich diese Vorurteile bei der Rekrutierung?
Ich habe vor ein paar Wochen zum Beispiel einer Firma eine Shortlist mit Kandidierenden geschickt. Der beste Kandidat hat einen ausländischen Namen, ist aber Schweizer. Die Firma hat ihn nicht eingeladen, weil sie Zweifel an seinen Sprachkenntnissen hatte, obwohl seine Sprachkenntnisse aus dem Lebenslauf hervorgingen. Es ist schwierig, Unternehmen nur mit einem Lebenslauf zu überzeugen. Ich bin selbst auch schon mit Vorurteilen konfrontiert worden – zu jung, Frau, drei Kinder, Französin.
«Unternehmen, die auf Diversity setzen, sind innovativer als ihre Konkurrenten.»
Wären anonyme CV die Lösung, also ohne Namen, Geschlecht, Alter?
Das wäre von Vorteil, ist aber noch nicht üblich. Ich empfehle aber zum Beispiel, lieber kein Foto mitzuschicken als ein unvorteilhaftes. Der erste Eindruck zählt, auch beim Lebenslauf.
Welche Vorurteile gibt es bei Vorstellungsgesprächen, und wie können sie korrigiert werden?
Wir lassen uns von selbstbewussten Menschen beeinflussen und überschätzen sie in der Regel. Die Kandidatinnen und Kandidaten, die sich am besten präsentieren und verkaufen, sind nicht unbedingt die besten Mitarbeitenden. Vorurteile dieser Art können dazu führen, dass wir die falschen Kandidierenden auswählen. Wir sollten daher unsere Einschätzung von extrovertierten, gutaussehenden Personen nach unten korrigieren und die von introvertierten, weniger attraktiven Personen nach oben. Zudem ist es ratsam, ein strukturiertes Vorstellungsgespräch zu führen, das heisst, allen Bewerbenden die gleichen Fragen zu stellen, um die Antworten besser vergleichen zu können.
Welche Tipps geben Sie Bewerbenden für das Vorstellungsgespräch mit auf den Weg?
Kommen Sie zum Vorstellungsgespräch mit der Frage: Wie kann ich meinem zukünftigen Manager bzw. meiner zukünftigen Managerin helfen? Wenn Sie diese Einstellung haben, verändert das die Tonalität des Gesprächs grundlegend. Wenn Sie hingegen mit dem Gedanken kommen, dass Sie beweisen müssen, dass Sie der oder die Beste sind, ist das bereits ein Fehler. Es ist auch wichtig, nicht zu vergessen, den Smalltalk vor und nach dem Vorstellungsgespräch vorzubereiten. Kandidierende, die sich für eine Führungsposition bewerben, sollten zum Beispiel über die Strategie, die Inflation, die Konkurrenz sprechen und nicht über banale Dinge wie das Wetter oder die Aussicht aus dem Sitzungszimmer.
Warum engagieren Sie sich für Diversity am Arbeitsplatz?
Es ist vielleicht provokativ, aber als Headhunterin ist mein Ziel nicht die Vielfalt, sondern den besten Kandidaten oder die beste Kandidatin für meinen Kunden zu finden. Sehr oft findet man diese aber in der Vielfalt. Ich bin davon überzeugt, dass Diversity Win-win-Situationen schafft. Unternehmen, die auf Diversity setzen, sind innovativer als ihre Konkurrenten (s. Studie McKinsey).
In Her Chair
«In Her Chair» ist ein humorvolles Video über unbewusste Vorurteile am Arbeitsplatz. Zehn männliche Schweizer CEO beantworten Fragen, die normalerweise nur Frauen gestellt werden. Alle Fragen basieren auf realen Situationen, die von der Initiantin Claire Garwacki in über 2000 Interviews gesammelt wurden.