Das Leid der Narzissten

Donnerstag, 30. Mai 2024 - Karen Heidl
Heute ist es en vogue, Narzissmus an den Pranger schlechter Führungs­kultur zu stellen. Was ist dran an dieser Pauschalisierung? Penso sprach mit dem Coach und Buchautor Dr. Christof Schneck über das Leid des ­Narzissten in einem emotionalen Teufelskreis.
Herr Dr. Schneck, es wird viel und medienwirksam über Narzissmus in Führungsetagen geschrieben, häufig garniert mit den zehn besten Tipps für den Umgang damit oder Ähnlichem. Womit haben wir es wirklich zu tun, wenn wir über Narzissmus sprechen?

Die Diskussion über Narzissmus entwickelt sich kontinuierlich. Narzissmus wird heute im Kontext früher Störungen gesehen. Frühe Störungen entstehen, wenn gesunde psychische Entwicklungen unterbrochen werden. Die neueren Erkenntnisse der Neurophysiologie zeigen, dass gerade die ersten Jahre der kindlichen Erfahrung die Persönlichkeit stark prägen. Menschen mit narzisstischen Persönlichkeitsanteilen sind beginnend in diesen Lebensmonaten nie wirklich geliebt und ganz angenommen worden. Diese Erfahrung zieht sich durch die weiteren Entwicklungsstufen. Die Kinder müssen dann so sein, wie ihre Eltern es von ihnen wünschen. Aber ein eigenes Selbst können sie nicht entwickeln. Ich sage immer: «Diese Kinder werden nie innerlich satt.» Narzisstische Entwicklungsstörungen sind ein unglaublich weit verbreitetes Phänomen. Wir kämpfen fast alle mehr oder weniger mit dieser seelischen, narzisstischen Not. Und deshalb sind wir auch leicht verführbar. Es wird bei dem Phänomen und Thema Narzissmus schnell etikettiert: «Das ist ein Narzisst.» Solche Label helfen nicht weiter und sind auch als Diagnose übergriffig. Die Frage beim Labeling ist auch, wieweit wir unsere eigenen narzisstischen Anteile auf Führungskräfte projizieren, die zum Teil mit ihren ­narzisstischen Verhaltensweisen extrem erfolgreich sind.

Christof Schneck

Dr. phil. Christof Schneck führte neben ­anderen beruflichen Stationen über 13 Jahre als ­Geschäftsführer ein Unternehmen mit über 200 Mitarbeitenden. Er promovierte in ­München über narzisstische Phänomene und Management und veröffentlichte mehrere ­Bücher zum Thema. Er ist Senior-Coach im Deutschen Bundesverband Coaching e. V.
Weitere Informationen: coaching-schneck.de

Ist das Bedürfnis nach Anerkennung auch immer gleich ein narzisstisches Phänomen?

Wir sind alle soziale Wesen und benötigen soziale Anerkennung. Aber es gibt unterschiedliche Grade der Ausprägungen. Menschen mit narzisstischen Entwicklungsdefiziten haben eine starke Erfolgsorientierung, ihre Empathie ist nicht allzu stark ausgeprägt, sie neigen dazu, in Führung zu gehen und sind risikofreudig. Dies sind alles Eigenschaften, die in unserer Marktwirtschaft gefragt sind. Es handelt sich in diesem Sinne um eine erfolgreiche Kompensation innerer Nöte.

Und wann wird es grenzwertig?

Es zeigt sich in Übertreibungen. Wenn beispielsweise die Familie und persönliche Beziehungen für den Job vernachlässigt werden und auch das eigene gesundheitliche Befinden stark vernachlässigt wird. Ich habe aber einen Hoffnungsschimmer: New-Work-Konzepte erfordern neue Formen der Zusammenarbeit. Diese schliessen Menschen aus, die ihre narzisstische Not durch Arbeit kompensieren wollen.

Können Unternehmen narzisstisch sein?

Ich würde fragen: Können Menschen mit narzisstischen Persönlichkeitsanteilen Unternehmen narzisstisch infizieren? Ich denke an die vielen Fälle, in denen Menschen mit narzisstischen Persönlichkeitsanteilen grandios gescheitert sind. Wie beispielsweise René Benko mit seinem auf zu hohes Risiko setzenden Immobilienimperium. Oder an den Ex-Manager Thomas Middelhoff, der wegen Untreue und Steuerhinterziehung verurteilt wurde. Oder an Jürgen Schremp, den ehemaligen Daimler-Chrysler-Manager. Die Geschichte von Ikarus, der zur Sonne fliegt und dann abstürzt, ist ein gutes Bild für dieses Muster. Solche Leute ziehen immer andere mit in den Strudel. Menschen mit narzisstischen Persönlichkeitsanteilen haben um sich herum immer Claqueure. Widerspruch und Diskurs werden nicht geduldet. Das zieht sich dann durch bis zum Scheitern, bis zur narzisstischen Unternehmenskrise. Psychosomatische Kliniken finden regen Zulauf von solchen gescheiterten Menschen mit narzisstischen Persönlichkeitsanteilen in der Krise. Dieses «höher, grösser, weiter» ist in unserem Wirtschaftssystem verankert, die Menschen mit narzisstischen Persönlichkeitsanteilen sind die Treiber dafür.

Schauen wir auf die Interaktionen im Unternehmen, wo es ganz unterschiedliche Typen von Narzissten auf unterschiedlichen Hierarchiestufen gibt. Haben Sie Empfehlungen, wie man das Verhalten narzisstischer Persönlichkeiten beeinflussen kann?

Wir wissen, dass narzisstische Personen mit Kritik nicht umgehen können, denn sie haben kein stabiles inneres Selbst, das Kritik aushält. Sie sind schnell gekränkt und weisen Schuld anderen zu. Deshalb ist es ratsam, Menschen mit narzisstischen Persönlichkeitsanteilen gegenüber mit Kritik äusserst vorsichtig zu sein. Man sollte sich auf die fachliche Ebene beschränken. Man sagt ja auch: «Der Narzisst leidet nicht, nur sein Umfeld.» Deshalb sollte man sich von Menschen mit narzisstischen Persönlichkeitsanteilen möglichst fernhalten. HR kann hauptsächlich bei der Einstellung einwirken. Wenn jemand zum Beispiel ein Job-Hopper ist, kann dies ein Indiz sein, und es stellen sich Fragen: Was waren genau die Wechselgründe? Gibt es persönliche Referenzen? Auch wenn in einem Bewerbungsgespräch jemand gar zu glatt auftritt, sollte man nochmals innehalten.

Kann man Narzissten coachen?

Die Möglichkeiten sind begrenzt. Es ist eine Ausnahme, wenn Menschen mit narzisstischen Persönlichkeitsanteilen ins Coaching kommen. Selten leiden sie genug, um bereit zu sein, Veränderungen vorzunehmen. Trotzdem muss man bedenken: Die narzisstische Persönlichkeit verbirgt sehr viel Leid. Menschen mit narzisstischen Persönlichkeitsanteilen sind noch niemandem begegnet, der ihnen geholfen hat. Deshalb wählen sie in ihrer inneren Not den Weg der Kompensation. Man muss Menschen mit solchem Leidensdruck mit einem Verständnis begegnen, dass diese Person von sich selbst noch gar nicht hat. Mit sehr viel Empathie. Da es sich um eine sehr tiefe Störung handelt, muss man sich fragen, ob Coaching angebracht ist oder ob nicht eher eine längere psychotherapeutische Begleitung angezeigt ist.

Was raten Sie Betroffenen?

Abgrenzung. Oder zur Not: Jobwechsel. Man kann einen Versuch unternehmen, die Problematik weiter oben in der Hierarchie zu platzieren, aber häufig sind Menschen mit narzisstischen Persönlichkeitsanteilen gedeckt, weil sie erfolgreich sind. Es gibt keine Top-Ten-Tipps, wie man mit Menschen mit narzisstischen Persönlichkeitsanteilen umgehen kann. Es gibt aber auch das Phänomen des Co-Narzissten. Wenn man sich zum Beispiel das klischeehafte Verhältnis zwischen einer erfolgreichen Führungskraft und ihrer Sekretärin anschaut, die im Schatten dieser Konstellation ihre eigenen narzisstischen Bedürfnisse befriedigt. Das ist natürlich auch eine Möglichkeit, sich mit einem Menschen mit narzisstischen Persönlichkeitsanteilen zu arrangieren, indem man ihn als Erfolgsgaranten instrumentalisiert.

Was ist narzisstische Not?

«Narzisstische Not entsteht immer dann, wenn Menschen sich oder andere nicht sehen können, wie sie sind. Das geschieht dann, wenn man innerlich davon abhängig ist, bestimmten Vorstellungen zu entsprechen. Narzissmus ist kein Selbstwertmangel, sondern eine Bezeichnung für eine innere Leere und den Versuch, diese Leere durch ein Konzept von sich und dem Leben zu verwirklichen. Narzissmus zeigt sich insbesondere auch in der Idee, dass man sich das Leben designen kann. Leben wird zum Produkt.»

Aus: Eidenschink, Klaus: Es gibt keine Narzissten! Nur Menschen in narzisstischen Nöten: Eine Handreichung für alle und jede(n), Karl Auer Verlag, 1. Aufl. 2023, ISBN 978-3849705343, Seite 20.

Buchempfehlung

Christof Schneck: Coaching und Narzissmus: Psychologische Grundlagen und Praxishinweise für Management-Coaches und ­Berater, Springer Verlag 2017, ISBN 978-3662539453.

Christof Schneck gibt einen Überblick über Narzissmus und ­narzisstische Phänomene im Managementumfeld und skizziert einen idealtypischen Verlauf eines Management-Coachings von narzisstischen Persönlichkeiten. Ein Buch für Management-­Coaches, Trainer und Berater, aber auch für Führungskräfte und Projektleiter, die mit dem Phänomen Narzissmus konfrontiert sind, beispielsweise in Person des Vorgesetzten, oder die den Mut haben, ihre eigenen narzisstischen Anteile zu reflektieren.

Auf der einen Seite gibt es unglaublich viele Narzissten, auf der anderen Seite kommen wir nicht wirklich an sie heran. Nun werden erfolgreiche Führungskräfte nicht einfach vor die Tür gestellt.

Hier möchte ich auf einen weiteren Aspekt hinweisen: Erfolg wird in Unternehmen in kurzen Zeitabständen gemessen. Menschen mit narzisstischen Persönlichkeitsanteilen sind nicht an Zukunft interessiert. Sie wollen jetzt Bestätigung. Unser Wirtschaftssystem fördert auch solche Menschen. Junge Führungskräfte mit derartigen Tendenzen kann man vielleicht noch entwickeln, bevor sich ein unerwünschtes, narzisstisches Führungsverhalten manifestiert. Da kann ein Coaching auch eine Öffnung für die Situation und für einen Blick in die eigene Biografie bewirken.

Die Aussage «Du bist ein Narzisst» ist ja eigentlich eine Beleidigung, die dem Phänomen nicht wirklich gerecht wird, denn wir alle tragen narzisstische Züge in uns. Aber durch diese Etikettierung ist es schon fast ein Schimpfwort geworden.

Ich würde es im Coaching auch nicht mehr benutzen. Wolfgang Loos, einer der Begründer des Coachings, sagte einmal zu mir: «Narzissmus ist ein Konstrukt, aber nur für den Coach, nicht für den Coachee.» Der Begriff gibt eine Orientierungshilfe, um jemanden einzuordnen, der unter narzisstischen Nöten leidet. Dann fragt man diese Person eher nach ihrem Befinden, nach dem Verhältnis zum Partner oder zum Team. Oder man geht in biografische Erfahrungen. Den Begriff Narzissmus verwendet man dabei nicht, er ist ein psychologisches Konstrukt zur Orientierungshilfe, aber nur als Arbeitshilfe. Ich als Coach will mit narzisstischen Personen eher eine Begegnung von Mensch zu Mensch schaffen, in der sie sich gesehen und verstanden fühlen. Eine Abwertung darf keinesfalls stattfinden.

Diesen geschützten Rahmen des Coachings kann man im Arbeitsumfeld kaum herstellen.

Klaus Eidenschink hat dazu ein sehr lesenswertes Buch herausgebracht, in dem er ausführt, dass es eigentlich keine Narzissten gibt, sondern nur Menschen mit narzisstischen Nöten. Diese Menschen haben nie tragfähige Beziehungen kennengelernt. Sie leben nur davon, dass sie Bestätigung erhalten. Eine Kommunikation erfordert, dass man einerseits diese Bestätigung gibt, andererseits muss man gleichzeitig an dieser Kontaktdynamik arbeiten. In der Psychoanalyse sagt man auch, dass man erstmal eine narzisstische Blase schaffen muss, damit sich die Person so wohl fühlt, dass sie sich auch öffnet. Trotzdem ist es heikel, und Menschen mit narzisstischen Persönlichkeitsanteilen springen schnell ab, weil es «für sie nicht das Richtige» ist. Das zeigt auch, wie wenig HR-Fachleute bewirken können.

Leben wir in einer Gesellschaft der «leicht Kränkbaren»?

Wir sind eine unglaublich narzisstische Gesellschaft und entwickeln immer weitere Instrumente, mit denen wir verführbar und ausgebeutet werden. Das Bewusstsein über frühe narzisstische Entwicklungsstörungen ist bei weitem noch nicht ausreichend ausgeprägt. Die sozialen Medien fördern eine narzisstische Kultur. Es wird ein Ideal propagiert, wie man zu sein hat, die kontinuierliche Selbstoptimierung. Die junge Generation hat es nicht einfach, eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln.

Take Aways

  • Die Entstehung von Narzissmus wird auf gestörte frühkindliche Erfahrungen zurückgeführt, die durch mangelnde Liebe und Akzeptanz in den ersten Lebensmonaten gekennzeichnet sind und sich im weiteren Lebensverlauf fortsetzen können.
  • Narzisstische Persönlichkeiten sind durch Erfolgsorientierung, geringe Empathie und die Tendenz zur Führung gekennzeichnet.
  • Eine Führung, die von Narzissten und Co-Narzissten dominiert wird, prägt die gesamte Unternehmenskultur. Es besteht die Gefahr der Etablierung von Führungscliquen, die das Unternehmen in schwierige Situationen stürzen.
  • Einwirkungsmöglichkeiten auf Narzissten sind begrenzt, da sie nicht kritikfähig sind.
  • Dem versteckten Leidensdruck von Menschen mit narzisstischen Persönlichkeitsanteilen muss man im Coaching mit viel Empathie und Vertrauensarbeit begegnen.

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