Gleichstellung – ein Sisyphus-Job?

Freitag, 11. Oktober 2024 - Karen Heidl
Zwei Panels der 8. St. Galler «Diversity & Inclusion Week» warfen ein Schlagschlicht auf den Stand der Geschlechtergleichheit im Arbeitsleben. Die Bestandsaufnahmen waren ernüchternd.

Seit 1981 ist das Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit» in der Schweiz verfassungsmässig verankert. Die Realität ist leider auch heute noch häufig eine andere, trotz weiterer Bemühungen des Gesetzgebers. 1996 wurde das Gleichstellungsgesetz auf den Weg gebracht und seit Juli 2020 schreibt dessen Artikel 13 Lohngleichheitsanalysen vor. Die Pflicht gilt für Unternehmen, die mindestens 100 Mitarbeitende beschäftigen. Ist diese Analyse einmal durchgeführt, schliessen sich keine weiteren Auswertungspflichten an. Es ist eine freiwillige Sache der Unternehmen, Schlussfolgerungen aus der Bestandsaufnahme zu ziehen und mögliche systematische Ungleichheiten zu beseitigen.

In einem Panel mit Dr. Lucia M. Lanfranconi, Professorin für Diversity, Equity & Inclusion an der Berner Fachhochschule (BFH), und Dr. Thomas Bauer, Leiter Wirtschaftspolitik beim Arbeitgeber Dachverband Travail Suisse, wurde über die Frage diskutiert, wie es um die Motivation der Unternehmen bestellt ist, sich eingehender mit dem Thema der Lohngleichheit zu befassen und was diesbezüglich in Zukunft zu erwarten sei. 

Diversity & Inclusion Week

Präsentationen und Videos zur 8. St. Galler Diversity & Inclusion Week sind unter folgendem Link verfügbar:

Inclusion Tagung

Erkenntnisse aus dem Gleichstellungsbarometer 2024 

Prof. Lanfranconi referierte einleitend zu neuen Erkenntnissen aus dem Gleichstellungsbarometer 2024. Diese Studie wurde bereits 2018 und 2021 im Auftrag der Gleichstellungsbeauftragten des Bunds und der Kantone durchgeführt, so dass Vergleichswerte aus drei Jahren vorliegen, wobei für jede Erhebung ein Schwerpunktthema gesetzt wurde. 2018 war dies die Frage der Lohngleichheit. Im Vergleich der drei Barometer zeige sich, so Lanfranconi, dass 2018 die Gleichstellung etwas besser eingeschätzt wurde als 2021 und 2024. Besonders 2021, in einem Corona-Jahr, seien die Werte massiv gesunken. Lanfranconi vermutet, dass die Pandemie die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern deutlicher zutage treten liess. 2024 seien die Werte wieder besser, aber nicht auf dem Niveau von 2018. Bei der Lohngleichheit herrsche das grösste Ungleichheitsbewusstsein bei den Teilnehmenden der Studie. Dreiviertel der Befragten hätten 2024 Handlungsbedarf festgestellt. 2018 habe ein Drittel der Befragten Lohnungleichheiten in ihren Unternehmen vermutet. Fünf von zehn Frauen gegenüber sechs von zehn Männern hätten angegeben, bereits selbst Lohn verhandelt zu haben, wobei die Frauen weniger erfolgreich waren als die Männer.  

Lanfranconi arbeitet für das Bundesamt für Justiz in einer Kommission mit, die eine Zwischenbilanz erarbeitet, um den Erfolg der Lohnanalyse-Pflicht einzuordnen. Es gehe dabei neben der Frage, ob diese überhaupt durchgeführt werde, auch darum herauszufinden, ob sie von einer Revisionsstelle überprüft und die Ergebnisse kommuniziert werden. Der Bericht zur Zwischenbilanz wird im 1. Quartal 2025 erwartet, so die Einschätzung Lanfranconis zum Veröffentlichungszeitpunkt. 

Diese Fragen beschäftigen auch Travail Suisse: Trotz der erhöhten Sensibilisierung für Fragen der Lohngleichheit in den Unternehmen kämen nicht alle Unternehmen der Pflicht zu Lohngleichheitsanalyse nach, berichtete Bauer. Zu den Gründen dafür werde häufig angegeben, diese Verpflichtung nicht zu kennen, oder es würden Dokumente fehlen, um die Daten einzugeben. Er halte es für problematisch, dass keine Sanktionen drohten, wenn sich Unternehmen nicht an das Gesetz halten.  

Ein weiterer Schwachpunkt sei die Kommunikation der Ergebnisse in den Unternehmen. «So entsteht kein Dialog über unerklärte Lohndifferenzen», sagte er. Optimal wäre eine maximale Transparenz, die zeige, wie hoch die Differenzen seien und mögliche Ursachen dafür einordne. Eine Darlegung der Massnahmen und eine Wiederholung der Analyse seien ebenfalls wichtige Faktoren, um Mitarbeitenden glaubwürdiges Interesse an dem Thema zu vermitteln.  

Wirtschaftlicher Impact von Gleichstellung 

Während es zwar keine Sanktionen gebe, die die Durchsetzung des Gesetzes stärker erzwingen, gebe es doch gute Gründe für Unternehmen, sich mit Lohngleichheitsanalysen zu befassen, darin waren sich die Panelisten einig.  

Lanfranconi führte aus, dass Lohngleichheits- samt weiterführenden Detailanalysen ein Startpunkt für die Überarbeitung des Lohnsystems sein könnten, das in Zeiten des Fachkräftemangels eine wichtige Aussagekraft über die Unternehmenskultur habe. Lohnsysteme seien heutzutage permanent von Wandel betroffen, da Gesellschaft und Politik als externe Faktoren auch auf die Attraktivität solcher Systeme einwirkten.  

Bauer verwies darauf, dass eine attraktive Reputation wichtig sei. «Man kann sich das als Unternehmen nicht mehr leisten», sagte er und bezog sich auf Intransparenz des Lohnsystems, während auch Lanfranconi die «Macht der Mitarbeiterzufriedenheit» als Motivation identifizierte. Wenn Unternehmen ihre Lohnbänder bereits bei der Rekrutierung kommunizierten, setze dies positive Signale der Transparenz und Gleichstellung. Mitarbeitende müssten Lohngleichheit aber auch stärker einfordern und ihre Führungskräfte nach diesen Analysen fragen. 

Gleichwohl forderte Bauer mit Blick in die Zukunft «neuen Schub im Gesetz». Die Durchführung, aber auch die regelmässige Wiederholung dieser Analysen müssten vorgesehen und Massnahmen zu deren Einforderung festgelegt werden.  

Gender Intelligence Report 2024 

Eine enttäuschende Bilanz zum Thema Geschlechtergleichstellung zog auch der Gender Intelligence Report 2024, der anlässlich der Diversity & Inclusion Days der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Die Studie untersucht die Entwicklung der Geschlechtergleichstellung in der Schweizer Arbeitswelt. Der jährlich erhobene Bericht, erstellt in Zusammenarbeit von Advance und dem Kompetenzzentrum für Diversity & Inclusion der Universität St. Gallen, basiert auf der Analyse von anonymisierten Daten von 370000 Mitarbeitenden aus über 90 Unternehmen in der Schweiz, darunter 138000 im Management-Positionen. 

Geringer Anteil von Frauen in Führungspositionen besteht weiter 

Der Anteil von Frauen in Führungspositionen ist nach wie vor gering. Frauen stellen etwa ein Fünftel der Top-Management-Positionen, obwohl sie etwa die Hälfte der Belegschaft in nicht-leitenden Positionen ausmachen. Die Fortschritte der Geschlechtergleichstellung sind minimal: Die Anteile stiegen im Vergleich zum Vorjahr je nach Management-Ebene zwischen null und zwei Prozentpunkten im Vergleich zum Vorjahr. Besonders beunruhigend ist, dass Männer in den entscheidungsrelevanten Positionen mit Macht- und Personalverantwortung dominieren. Diese geringe Bandbreite war bereits in den Vorjahren feststellbar (siehe Grafik). 

Quelle: Gender Intelligence Report 2024, Seite 5 

 

Der sogenannte «Glass Ceiling Index» zeigt, ob Frauen und Männer die gleichen Chancen haben, eine Managementposition zu erreichen. Idealerweise entspricht der Frauenanteil auf allen Managementebenen ihrem Anteil an der gesamten Belegschaft. In diesem Idealzustand würde der GCI bei 1 liegen. Je höher der Index, desto dicker die gläserne Decke und desto ausgeprägter die Überrepräsentation von Männern. Ein GCI von 2.1 bedeutet, dass Männer in mittleren und oberen Managementpositionen 2.1-mal häufiger vertreten sind, als ihr Anteil an der Belegschaft beträgt. Dieser Index zeigt deutlich, dass die gläserne Decke weiterhin besteht und Männer in mittleren und höheren Führungspositionen stark überrepräsentiert sind. Zwei Branchen stechen mit signifikant hoffnungsfroheren Werten hervor: die Pharma-Industrie und die Tech-Branche (siehe Grafik). 

Quelle: Gender Intelligence Report 2024, Seite 7 

Die Machtlücke 

Männer besetzen fast drei Viertel der Machtpositionen, gemessen an der Personalverantwortung. Besonders auffällig ist, dass Männer in diesen Rollen doppelt bis dreimal so häufig befördert oder eingestellt werden wie Frauen. Die Machtlücke spiegelt sich auch in den finanziellen Unterschieden wider. Während der Gehaltsunterschied zwischen Frauen und Männern im nicht-leitenden Bereich bei 7% liegt, steigt er in mittleren und oberen Management-Ebenen auf 18%. Am gravierendsten ist jedoch die Bonuslücke: Frauen erhalten im Durchschnitt 54% weniger Bonus als Männer. Dies verdeutlicht, dass Frauen trotz gleicher Leistung und Qualifikation oft nicht der selbe Wert zugemessen wird wie ihren männlichen Kollegen.  

Unterstützung und Karriereförderung von Frauen 

Eine Umfrage unter 1200 berufstätigen Frauen in der Schweiz zeigt, dass 90% der Frauen unabhängig vom Alter Karriereambitionen haben. Dennoch gaben 70% an, nicht ausreichend unterstützt zu werden. Männer werden mehr als dreimal so oft ermutigt, Führungspositionen anzustreben. Dies zeigt sich insbesondere in den sogenannten P&L-Rollen (Profit & Loss), die oft als Sprungbrett zu höheren Machtpositionen dienen. Frauen fehlt häufig der Zugang zu diesen entscheidungsrelevanten Positionen, was ihre Aufstiegschancen erheblich mindert. Die Geschäftsführerin des Geschäftsbereichs Advance Gender Equality in Business, Alkitis Petropaki, führt dies auf die geschlechterspezifischen Lebensläufe zurück, bei denen Frauen in ihren Dreissigern häufig in Teilzeitpositionen gehen oder eine längere Paus einlegen, um sich ihrer Familie zu widmen (siehe Grafik).

Quelle: Gender Intelligence Report, Seite 9 


Angesichts des Fachkräftemangels werde die Entwicklung und Bindung von Talenten immer wichtiger, so die Einschätzung von Petropaki. Unternehmen könnten es sich nicht leisten, potenzielle weibliche Führungskräfte auf dem Weg nach oben zu verlieren. Besonders talentierte Frauen im unteren und mittleren Management müssten gefördert und an das Unternehmen gebunden werden, da sie die Pipeline für zukünftige Top-Management-Positionen bilden. Eine bewusste Nachfolgeplanung, die Frauen frühzeitig Zugang zu Machtpositionen ermögliche, sei entscheidend, um die Machtlücke zu schliessen. «Sind Frauen selbst schuld, weil sie falsche Entscheidungen treffen?» fragte Petropaki und unterstrich in der Beantwortung dieser Frage, dass Karriereentscheidungen nicht in einem privaten Vakuum getroffen würden, sondern abhängig von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen seien. 
 

Schliessung der Gender-Gaps 

Petropaki empfahl verschiedene Massnahmen, die Unternehmen, Führungskräfte und Mitarbeitende ergreifen können, um Geschlechtergleichheit und Machtbalance zu fördern. Dass diese Massnahmen wirkungsvoll umgesetzt werden können, zeigen diverse Praxisbeispiele, die während der Präsentation vorgestellt wurden. 

  • Analyse und Zielsetzung 

Unternehmen sollten die Geschlechterverteilung in Machtpositionen analysieren und klare Diversitätsziele festlegen. Dabei sollte auch die Entwicklung älterer weiblicher Talente einbezogen werden, da diese oft ihre Karrieren verstärkt weiterentwickeln, wenn familiäre Verpflichtungen nachlassen. Ein erfolgreiches Praxisbeispiel präsentierte Ikea. Ina Rhöös, Equality, Diversity and Inclusion Leader, IKEA Switzerland, führte aus, dass das Unternehmen bereits vor 30 Jahren das Ziel formuliert habe, einen ausgeglichenen Geschlechteranteil in der Funktion der Store-Manager zu erzielen, was konsequent umgesetzt worden sei. Das Fazit: «Gleichstellung tut dem Geschäft und den Menschen gut.» Wichtig in der Entwicklung der Mitarbeitenden seien realistische Zielsetzungen, langfristige Nachfolgeplanung und Mentoring. Die Werte Diversität und Inklusion würden bei Ikea konsequent gelebt, erklärte die Referentin. Dies schaffe Vertrauen, was eine wichtige Grundbedingung darstelle, wie auch die Referentinnen von EY und Vontobel ihre Erfahrungen rekapitulierten. 

Best Practice Beispiele

Alle Best Practice Beispiele und der ausführliche Report sind auf der Website advance-hsg-report.ch einsehbar.

  • Verantwortung und Transparenz 

Führungskräfte sollten für die Erreichung von Diversitätszielen verantwortlich gemacht werden. Deren Erreichung sollte direkt an das Belohnungssystem geknüpft werden.  

  • Förderung und Weiterbildung 

Frauen sollten aktiv für P&L-Rollen vorgeschlagen und durch Schulungen, Mentoring und flexible Arbeitsmodelle unterstützt werden. Wichtig sei auch eine gleiche Information über Karrieremöglichkeiten für Männer und Frauen.  

  • Karrieresponsoring 

Systematische Karrieresponsoring-Programme, in denen einflussreiche Führungskräfte aktiv weibliche Talente fördern und einen inklusiven Führungsstil pflegen, seien essenziell. Sponsoring gehe dabei über Mentoring hinaus, da der Sponsor direkt Karrieremöglichkeiten eröffnet. In einem Praxisbeispiel stellte die Firma Siemens ihr NextGenFemLeader Program vor. Ariane Pevitali, Head Gobal IT Excellence Team, bestätigte, dass sich Frauen kaum auf Führungspositionen bewerben, weil ihnen das Selbstvertrauen fehle oder weil sie aus Familienplanungsgründen nur in Teilzeit arbeiten könnten. Es gelte, sie zu ermutigen und auf Führungsaufgaben vorzubereiten. Die Teilnahme an dem Leadership-Programm eröffne den Teilnehmerinnen nicht nur neue Einblicke in allgemeine Business-Themen, sondern auch Zugriff auf ein internes Netzwerk von Frauen in Machtpositionen, erklärte Annabelle Weber, Board & Program Lead bei Siemens. 

  • Financial Literacy und Flexibilität 

Weiterbildung von Frauen in Finanzthemen sowie flexible Arbeitsmodelle wie Job Sharing seien wichtige Instrumente, um Frauen auf der Karriereleiter zu halten. 

Fazit 

Die ernüchternde Zwischenbilanz der Gleichstellung in der Schweiz zeigt vor allem eines: Die Situation ist zu komplex, als dass sie per Gesetz einfach gelöst werden könnte. Die Rahmenbedingungen von Frauen hängen von vielen Faktoren innerhalb der Unternehmen und in der Gesellschaft ab. Auf gut ausgebildete Frauen im Wirtschaftsleben angesichts des Fachkräftemangels zu verzichten, ist jedoch keine Alternative. Die Unternehmen werden unter diesem Druck flexiblere Entwicklungspfade auch für Frauen schaffen müssen. Die Gleichstellung von Frauen bleibt aber ein zäher Prozess. Eine erschütternde Erkenntnis im Jahr 2024. 

Take Aways

  • Der Status der Geschlechtergleichstellung ist ernüchternd: Trotz rechtlicher Vorgaben zur Lohngleichheit bleibt die Umsetzung nach Einschätzung von Travail Suisse mangelhaft.  
  • Studien belegen die Situation: Sowohl das Gleichstellungsbarometer 2024 als auch der Gender Intelligence Report 2024 zeigen, dass Lohngleichheit und Gleichstellung noch deutlich von der Realität entfernt sind. 
  • Der «Glass Ceiling Index» des Gender Intelligence Reports zeigt, dass Frauen weiterhin unterrepräsentiert sind, besonders in Entscheidungspositionen. Männer sind in Führungsrollen doppelt so häufig vertreten, was auf eine persistente gläserne Decke hinweist. 
  • 70% der Frauen fühlen sich in ihrer Karriere nicht ausreichend gefördert. Männer werden häufiger zur Übernahme von Führungspositionen ermutigt, während Frauen der Zugang zu entscheidenden Karrierepfaden fehlt. 
  • Empfehlungen: Unternehmen sollten Diversitätsziele setzen, Verantwortlichkeit und Transparenz fördern sowie Frauen gezielt in Machtpositionen unterstützen, beispielsweise durch Sponsoring-Programme und flexible Arbeitsmodelle. 

Interview mit Expertin für Diversity Management

Lesen Sie auch das Interview von Karen Heidl mit Prof. Dr. Gudrun Sander zur Frage, ob die Schweiz unter einer Gleichstellungsfatigue leidet.

Zum Interview

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