Die Altersgruppe der Lernenden steht entwicklungs- und situationsbedingt vor besonderen psychischen Herausforderungen. Die Lernenden müssen sich in das Unternehmensumfeld einleben, das ein anderes soziales System darstellt als die bisher bekannte Schule, in die man mehr oder weniger gerne ging, die aber doch über eine lange, prägende Zeit der Kindheit vertraut war. Neue Alltagssituationen erfordern neue Interaktionsweisen. Manche neuen Situationen verunsichern. Eine Art pubertäre «Lethargie», die mitunter den Eindruck vermittelt, die betreffende Person sei gar nicht bei der Sache, kann eine Antwort auf die emotionale Überforderung sein. Menschen, die sich in dieser Form ausklinken, unterscheiden sich allerdings von denjenigen, die einfach introvertiert sind, dadurch, dass Introvertierte sehr wohl bei der Sache sind – häufig sogar mehr als ihre extravertierten Kolleginnen und Kollegen. Die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Brigitte Pfanner-Meyer bestätigt, dass es für Aussenstehende nicht einfach sei, ein Rückzugsverhalten richtig zu interpretieren. Überforderung sei in der Altersgruppe der Lernenden häufig anzutreffen. Ob gar eine psychische Störung vorliege oder ob eine Person lediglich introvertiert sei, sei nicht immer eindeutig. Es gebe aber Indikatoren:
«Introvertierte Menschen haben eigentlich keinen Leidensdruck. Sie sind einfach ruhiger und zurückhaltender. Sie interagieren und partizipieren, aber eben auf ihre introvertierte Art. Sie sind in der Regel nicht zurückgezogen, antriebslos oder unkonzentriert, was bei psychischen Störungen der Fall sein kann», erläutert sie die Verhaltensunterschiede.
Praxisbildner und Führungskräfte müssten sich bewusst sein, dass introvertierte Lernende grösserer Aufmerksamkeit bedürften, führt sie weiter aus. Wenn man allerdings über positive Verstärkung und gezieltes Ansprechen nicht an eine Person herankomme, dann sollte man sich Gedanken machen, ob es vielleicht doch ein Problem oder einen Leidensdruck gebe. In diesem Fall sollte man sich trauen zu fragen, auch wenn manche introvertierte Menschen mitunter nicht so zugänglich wirken.
Bin ich o.k.?
Dabei ist etwas Fingerspitzengefühl gefragt, denn schliesslich gilt es doch zu vermeiden, einer introvertierten Person das Gefühl zu vermitteln, dass etwas mit ihr nicht stimme. Pfanner-Meyer empfiehlt, den direkten Weg zu gehen und das irritierende Verhalten zu spiegeln, zum Beispiel mit folgenden Worten: «Ich merke, dass du sehr still bist. Ist das deine Art, oder
muss ich etwas anders machen?» In so einem Zweiergespräch könne man normalerweise ganz gut herausfinden, was die andere Person brauche und welche Wünsche sie habe.
Introversion wird häufig gleichgesetzt mit Schüchternheit oder Unsicherheit. Diese Verknüpfung ist aber nicht zwangsläufig. Introvertierte machen nur häufig Erfahrungen, die dazu führen, dass sie unsicher werden. Pfanner-Meyer nennt als Beispiel das in der Schule erwünschte Verhalten, sich möglichst aktiv zu Wort zu melden, was für introvertierte Menschen nicht so einfach wie für extravertierte ist, weil sie länger über das, was sie sagen wollen, nachdenken. Aufgrund dieses Verhaltens werden dann schnell falsche Schlüsse gezogen. Das Umfeld unterstellt, dass der Schüler oder die Schülerin wohl nichts weiss. «Wenn man so etwas neun Jahre hört, dann wird man schon unsicher. Aber eigentlich ist dies nicht eine Konsequenz der Introversion», sagt Pfanner-Meyer.
Sie empfiehlt, dass man als Führungskraft introvertierten Menschen Zeit geben solle, sich eine Meinung zu bilden, um sie dann explizit zu fragen, was sie denken. Extravertierte seien in der Regel einfach schneller: «Sie überlegen, während sie sprechen, und reden dann unter Umständen auch so lange, bis sie endlich auf einen Punkt kommen. Die Introvertierten denken, bevor sie reden. Dafür brauchen sie etwas mehr Zeit. Da können Führungskräfte einhaken und gezielt nachfragen, ob sie noch etwas ergänzen möchten. Führungspersonen sollten die Kommunikation im Team so moderieren, dass sich Introvertierte mit ihren häufig sehr fundierten Reflexionen einbringen können.» Teamrituale, die die Inklusion Introvertierter unterstützen
Introvertierte bevorzugen im Allgemeinen schriftliche Ausdrucksformen (siehe dazu auch das Interview mit Dr. Sylvia Löhken). Deshalb ist es auch in Sitzungen hilfreich, Methoden einzusetzen, in denen schriftlich Gedanken und Ideen vom Team eingeholt werden. Gleiches gilt für elektronische Kollaborationsformen wie Chats oder E-Mails. Einen weiteren Tipp gibt Pfanner-Meyer für Diskussionen in grossen Gruppen. Es helfe, diese in kleinere Gruppen für die Diskussion aufzuteilen, so dass sich introvertierte Menschen eher in überschaubaren Kreisen einbringen können. Dies sei ihnen angenehmer, als vor grossen Gruppen zu sprechen.
Gleichzeitig müssen Introvertierte aber auch lernen, dass es im Job ein gewisses Mass an notwendiger sozialer Interaktion gibt. Deshalb solle man introvertierte Personen immer auch mal wieder ermuntern, ein Diskussionsergebnis zu präsentieren, schlägt Pfanner-Meyer vor. Dabei realisierten introvertierte Lernende häufig, dass sie genauso gut präsentieren könnten wie ihre extravertierten oder auch älteren Kolleginnen. Wichtig sei auch positives Feedback, wenn ein Beitrag geleistet worden sei. Das stärke das Selbstvertrauen.
Für eine introvertierte Person ist es nicht unbedingt einfach, sich in ein Gruppengespräch einzubringen; sie wird nicht einfach dazwischenreden. Eine bewusste Körpersprache könne hier unterstützen: sich vorlehnen oder die Hand heben, um zu signalisieren, dass man etwas sagen möchte.
Introversion ist keine Störung
Zwei weitere Tipps gibt Pfanner-Meyer Berufsbildnern auf den Weg: «Man muss unterscheiden: Introvertierte sind nicht zwangsläufig sozial ängstlich. Besteht jedoch eine soziale Unsicherheit, sind Briefings und häufiges Üben hilfreich, um eine Routine in bestimmten Situationen zu entwickeln. Man kann Lernende sich gegenseitig in Rollenspielen trainieren lassen, damit sie Sicherheit gewinnen.» Total falsch wäre es, Vermeidungen zuzulassen. Man müsse introvertierte und unsichere Lernende mit Hilfestellungen begleiten und ihnen dabei den Raum geben, auf ihre Art zu lernen. «Introversion ist ja keine Krankheit oder Störung. In einem von Extravertierten dominierte Umfeld ist es nicht immer so einfach, diesen Raum zu finden.»
Ich bin o.k.!
Für introvertierte Menschen ist es keine Option, sich wie ein Extravertierter zu verhalten. Dies würde in eine Erschöpfung führen. Um die Entwicklung einer selbstbewussten, introvertierten Persönlichkeit zu unterstützen, sei positives, verstärkendes Feedback besonders wichtig, verbunden mit dem Signal: «Du bist o.k., so wie du bist. Du musst dich nicht wie ein Extravertierter verhalten.» Führungskräfte sollten vermitteln, dass sie es schätzten, wenn man sich Gedanken mache, empfiehlt Pfanner-Meyer. Auch helfe es, die Stärken introvertierter Menschen explizit hervorzuheben, weil diese – anders als ihre extravertierten Kolleginnen und Kollegen – es selten selbst tun. Es sei wichtig zu signalisieren, dass man ihre Stärken wahrnehme.
Take Aways
- Bei Lernenden kann eine Ursache für Rückzugsverhalten eine altersbedingte emotionale Überforderung sein. Introvertierte partizipieren und interagieren im Unterschied dazu.
- Psychische Störungen sind meist mit einem erkennbaren Leidensdruck verbunden. Diesen haben Introvertierte nicht.
- Introvertierte Lernende, die unsicher sind, müssen schrittweise an bestimmte soziale Herausforderungen herangeführt werden. Aktives Einbeziehen der Lernenden und verstärkendes, ermutigendes Feedback fördern das Selbstbewusstsein. Vermeidungen sind keine Lösung.
- Rollenspiele und detaillierte Briefings können helfen, bestimmte Kommunikationssituationen zu meistern.
- Schriftliche Ausdrucksformen werden von introvertierten Menschen bevorzugt. Dies sollte man bei der Konzeption von Diskussionen bedenken, um zurückhaltenden Menschen Gelegenheit zu geben, sich einzubringen.
- Kleine Gruppen sind für introvertierte Personen angenehmer als die Diskussion in grossen Gruppen.