Leidet die Schweiz unter einer Gleichstellungsfatigue?

Freitag, 11. Oktober 2024 - Karen Heidl
Prof. Dr. Gudrun Sander setzt sich seit 30 Jahren als Forscherin, in der Lehre und als Beraterin für das Thema Gleichstellung ein. Wie interpretiert sie den aktuellen Stand?

Zur Person

Gudrun Sander ist Titularprofessorin für Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Diversity Management an der Universität St. Gallen, wo sie auch das Kompetenzzentrum für Diversity und Inclusion leitet. Seit über 30 Jahren setzt sie sich für Diversity, Equity und Inclusion ein und entwickelte Projekte wie das St. Gallen Diversity Benchmarking und den Gender Intelligence Report. Als Mitglied der UN-Women Leadership Group engagiert sie sich weltweit für Gleichstellung und ist eine gefragte Referentin zu Themen wie Unconscious Bias und strategisches Management.

Firmen sehen Frauen vor allem als berufstätige Mütter und nicht als Mitarbeitende mit Karriereambitionen.
Frau Prof. Sander, die Zahlen zur Geschlechtergleichstellung sind ernüchternd. Warum kommen wir in der Schweiz mit dem Thema nicht vom Fleck?  

Das hat verschiedene Gründe. Einerseits arbeiten Frauen zu einem grossen Teil Teilzeit, besonders in den karrieretechnisch wichtigen «Rush-Hours-of Life», wo berufliche Entwicklungsschritte mit der Familiengründung kollidieren. Wir sehen aus den Zahlen des Gender Intelligence Reports (GIR), dass nur 3-5% aller Beförderungen an Personen gehen, die unter 80% arbeiten. Der GIR zeigt auch, dass nur 26% der Führungspositionen mit Personalverantwortung von Frauen gehalten werden. Diese Positionen sind es aber, die zu weiteren Karriereschritten führen. Andererseits sehen Firmen Frauen vor allem als berufstätige Mütter und nicht in erster Linie als zu entwickelnde und ambitionierte Mitarbeitende mit Karriereambitionen. Und darüber hinaus machen es die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen den Frauen nicht leicht, Karriereambitionen auszuleben. Ich denke hier an die fehlende Individualbesteuerung in Kombination mit der sehr teuren Kinderbetreuung und die gesellschaftlich wirkmächtigen Stereotypen der in Vollzeit arbeitenden «Rabenmutter», die ihre Kinder fremdbetreuen lässt.

Welche Rahmenbedingungen unterscheidet die Unternehmen mit besser gelingender Geschlechtergleichstellung von denjenigen, die sich weniger hervortun?  

Die Faktoren lassen sich insofern verallgemeinern, als Branchen mit stark naturwissenschaftlichen Anteilen es Frauen und Minderheiten eher ermöglichen bei guter Leistung aufzusteigen. Das sehen wir z.B. in der Tech-Branche, aber auch in der Pharma-Industrie. Wobei in der Pharma-Industrie dazu kommt, dass die Pipeline von den unteren Hierarchiestufen an sehr gut gefüllt ist. In der Tech- und MEM-Branche hingegen haben wir vergleichsweise wenig Frauen, aber diese Firmen unternehmen sehr viel, um diese Frauen zu behalten und zu entwickeln.  

Wie schätzen Sie die Entwicklungen in den nächsten fünf Jahren ein?  

Das ist schwer zu sagen. Es braucht gemeinsame Anstrengungen von Firmen/Organisationen, der Politik und uns allen, dass wir Frauen als qualifizierte Arbeitskräfte sehen und nicht einfach in erster Linie als Mütter. Wir hatten noch nie so viele so gut ausgebildete Frauen am Arbeitsmarkt. Denken Sie z.B. an die Medizin: Mehr als 60% aller Abschlüsse in Humanmedizin in der Schweiz gehen an Frauen. Wenn es uns nicht gelingt, diese top qualifizierten Frauen im Beruf und in den Spitälern zu halten, wird die Qualität unseres Gesundheitssystems massiv sinken. Zudem mahnt die WHO zunehmend, dass das Abwerben von gut qualifiziertem Gesundheitspersonal im Ausland prekäre Lücken in den dortigen Ländern hinterlässt und ethisch nicht zu vertreten ist.  

Sie engagieren sich seit 30 Jahren für Diversity & Inclusion. Wenn Sie zurückblicken, was hat sich in Ihrer subjektiven Wahrnehmung in dieser Zeit verändert? 

Als ich anfangs der 1990er Jahre angefangen habe, mich mit dem Thema im Rahmen meiner Dissertation zu beschäftigen, war ich die zweite Frau an der HSG, die in diesem Bereich geforscht hat. Das Thema war total marginalisiert und wurde – wenn überhaupt – in linken und gewerkschaftlichen Kreisen in verrauchten Hinterzimmern unter wenigen Feministinnen diskutiert. Heute ist das Thema auf jeder strategischen Agenda von grösseren Unternehmen. Ich habe pro Woche zwei bis drei Workshops mit Geschäftsleitungen oder HR-Fachpersonen, besonders zum Thema Umgang mit eigenen Unconscious Biases (unbewussten Vorurteilen) und wie diese Entscheidungen von Führungskräften beeinflussen. Oder ein anderes Beispiel: Als ich 1989 an die HSG kam, gab es 17% Studentinnen und keine einzige Professorin. Da stehen wir heute schon sehr viel besser da. Und trotzdem – wenn es um die Machtpositionen geht, sind die Frauen nach wie vor untervertreten. Es gibt also noch sehr viel zu tun.  

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