«Wir sind eine Organisation, die sich immer mit Problemen beschäftigt», erklärte Dr. Matthias Conradt, Psychologe und Geschäftsführer des Employee-Assistance-Anbieters Insite in Frankfurt am Main. Das Unternehmen unterstützt Mitarbeitende von Unternehmen, die zwischen 50 und 50000 Angestellte haben, in privaten und beruflichen Fragen. Insite berät ca. 350000 Mitarbeitende und deren Familien. Davon melden sich jährlich 5% für eine Beratung. Für deren Probleme gebe es in der Regel keine allgemein gültigen Handlungsanweisungen. Lösungen seien immer sehr abhängig von der jeweiligen Organisation, Tätigkeit und Persönlichkeit.
Mediale Verzerrungen
Medial würden häufig verzerrte Fakten vermittelt, beispielsweise dass fast alle Menschen im Homeoffice arbeiten. Das sei aber nicht der Fall. Die Mehrzahl der Beschäftigten ging auch während der Lockdowns einer Präsenzarbeit nach. In Deutschland waren es zu Hochzeiten der Coronakrise ca. 27% der Beschäftigten, die im Homeoffice tätig waren. (In der Schweiz waren ungefähr 50% der Beschäftigten im Homeoffice. Anm. d. Red.)
Ein weiteres Zerrbild entstehe um den Begriff der New Work, die entweder gefeiert oder verteufelt werde, wobei im zweiten Falle häufig eine massive Zunahme psychischer Störungen kolportiert würde.
Insite hat die Beratungsthemen vom August 2019 – also vor Corona – den Themen vom August 2020/21 entgegengestellt. Auffällig ist, dass es wenig Auffälligkeiten gibt. Die Themenmischung während Corona sei vergleichbar derjenigen zu Vor-Corona-Zeiten. Lediglich die Nutzung der Beratungsangebote stieg während der Corona-Zeit um 16%.
Die problematischen Anliegen seien in Corona-Zeiten allerdings heftiger ausgeprägt, beispielsweise seien hier die suizidalen Fälle zu nennen. Die Population scheine belasteter. Der Run auf Psychotherapie sei extrem hoch und bei der Vermittlung von therapeutischer Unterstützung, die Teil des Employee-Astistance-Angebots sei, gebe es Engpässe.
Die Folgen der Digitalisierung
Wenn man über die Digitalisierung spreche, so Conradt, müsse man verschiedene Ebenen unterscheiden:
- Ebene: Die Positionierung eines Unternehmens in der digitalen Welt
- Ebene: Der digitale Reifegrad der Wertschöpfungskette
- Ebene: Die digitale Kommunikation
Diese letztgenannte Ebene sei ein immanentes Problem hybrider Arbeitsformen, führte Conradt weiter aus. Dies sei psychologisch recht simpel erklärbar: Menschen kommunizieren mit allen ihren Sinnen. Vieles passiere dabei vorbewusst bzw. unbewusst über Mimik, Gestik, Gerüche. In der digitalen Kommunikation werden diese Sinneseindrücke eingeschränkt. Conradt wolle damit nicht die Videokommunikation verteufeln, allerdings müsse man sich bewusst machen, was diese Kommunikation bei Mitarbeitenden auslöse. So machte auch schon auf dem Personalmanagementkongress der Ausdruck: «Ich bin ausgezoomed» die Runde. Wie kommt es dazu? Conradt führt die Zoom-Fatigue darauf zurück, dass wichtige Informationen fehlten, die man in direkter Kommunikation taktil und in 3D wahrnimmt. Dieses Phänomen werde auch von den Ergebnissen einer Studie von Kaluza & Dick, 2020 [1] bestätigt.
Vor- und Nachteile von Homeoffice in einer Befragung von 2020
Quelle: Dr. Antonia J. Kaluza & Prof. Dr. Rolf van Dick: Homeoffice und Covid 19: Befragung von 331 Mitarbeitenden vor und während der Corona Pandemie zu den Vor- und Nachteilen von Homeoffice. Frankfurt am Main 2020.
Die Gefühle sozialer Isolation, mangelnder Koordination mit Kollegen und Informationsverlust werden als Nachteile genannt. Diese Gefühle treten in einem Zustand einer Sinnesbegrenzung ein, so Conradt, man sei müde und weiss nicht warum. Dies sei einer der Gründe, warum manche Menschen es vorzögen zu telefonieren.
Learnings aus der Corona-Zeit
Die Corona-Zeiten waren rückblickend wertvolle zwei Jahre, aus denen man viel lernen könne.
- Kunden von Insite spielen heute häufig zurück, dass die Teamorganisation bedroht zu sein scheint. Die Menschen fühlten sich zum Teil abgekoppelt vom Team. Bei solchen Problemen gehe es häufig um Teamidentifikation, so Conradt. Alle Versuche, mit digitalen Mitteln die Teamzugehörigkeit herzustellen, seien wenig effektiv, fasste der Referent das Fazit zusammen.
- In der dezentralisierten Arbeitssituation würden Interessenslagen stärker individualisiert, beispielsweise in der Weigerung, wieder ins Büro zu gehen. Jeder stelle seine eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund. Solche Ansagen prasselten auf die Leitungsfunktionen ein, was dann nicht ganz einfach zu handeln sei.
- Prozesse, die früher gut funktioniert haben, müssen in hybriden Arbeitssituationen neu überdacht werden.
- Führung habe einen deutlich anderen Fokus bekommen; Führungskräfte seien «die neuen Sozialarbeiter», die sich sehr viel mehr mit dem Wohl ihrer Mitarbeitenden auseinandersetzen müssten.
- Kontakte seien weniger informell und Selbstmanagement werde immer wichtiger. Das sei von Vorteil für Leute, die sich selbst gut organisieren können. Es gebe aber auch viele Menschen, die dazu nicht in der Lage seien und in mentale und Stimmungsschieflagen gerieten, berichtete Conradt aus seiner Erfahrung. Gerade Selbstmanagement-Fähigkeiten seien Kernkompetenzen bei einer zukünftigen Bewerberauswahl, prognostizierte er.
New Work als Kommunikationskiller
Trotz vieler Vorteile der Möglichkeit, selbst den Arbeitsort zu bestimmen und auf das Pendeln verzichten zu können, sei New Work ein Kommunikationskiller und fördere das Risiko einer niedrigen Team-Identifikation. Studien zeigen, dass Führungskräfte über Zunahme der individuellen Betreuung der Mitarbeitenden klagen, da sie viel Zeit und Energie kosten.
Conradt empfahl nach dem Motto «know your shit», dass jedes Unternehmen eine eigene Problemanalyse durchführen müsse, wie es um Teamidentifikation und Führungsfokus bestellt sei.
Wenn das Gesprächsbedürfnis der Menschen ansteige, müsse ausgehandelt werden, welche Aufgaben von den Führungskräften verfolgt werden sollen.
Auf Nachfrage bezeichnete Conradt ein etwaiges Recht auf Homeoffice, wie es in Deutschland in einigen politischen Kreisen diskutiert werde, als einen grossen Fehler. Jedes Unternehmen müsse für jede Tätigkeit und für jeden Funktionsbereich selbst entscheiden können, wieviel Homeoffice adäquat sei, denn es gebe viele Risiken.