Herr Dahinden, Sie bieten für Unternehmen Schulungen in Gewaltprävention an. Welche Themen umfasst Gewalt am Arbeitsplatz?
Gewalt am Arbeitsplatz ist ein sehr breites Feld und geht weit über direkte körperliche Übergriff e hinaus. Sie schliesst auch verbale Gewalt ein. Namentlich Grenzüberschreitungen und Drohungen von Kunden – einschliesslich Suizidandrohungen, die am Telefon, per E-Mail oder Brief geäussert werden. Auch die Prävention von Raubüberfällen und Massnahmen zur Selbstbehauptung gehören dazu. Ein zentraler Aspekt unserer Schulungen ist die Vermittlung präventiver Strategien für Mitarbeitende, die dafür ausgebildet werden, Bedrohungssituationen frühzeitig zu erkennen, zu vermeiden oder zu entschärfen. Unser oberstes Ziel ist es, dass die Mitarbeitenden sicher und gesund von der Arbeit nach Hause kommen.
Wie hat sich das Bewusstsein für das Thema Gewalt in den Unternehmen während der letzten Jahre entwickelt?
Die Corona-Pandemie hat Veränderungen im Umgang mit Gewalt am Arbeitsplatz bewirkt. Durch den fehlenden physischen Kontakt hat die Gewalt am Telefon, per E-Mail und per Post stark zugenommen, und diese Entwicklung wirkt bis heute nach. Als Reaktion darauf haben wir den Kurs «Gewalt am Telefon» entwickelt. Die mediale Aufmerksamkeit für das Thema Gewalt am Arbeitsplatz hat zugenommen, was das Bewusstsein in den Unternehmen geschärft hat. Wer möchte schon sein Unternehmen im Zusammenhang mit Gewalteskalationen in den (sozialen) Medien vertreten sehen? Führungskräfte sind zunehmend sensibilisiert für ihre Fürsorgepflichten und das Gesundheitsmanagement. Diese Pflichten sind zwar im Arbeitsgesetz verankert, aber nicht alle Aspekte sind detailliert ausgeführt. Das eröffnet den Unternehmen grossen Spielraum, um selbst zu entscheiden, welche Massnahmen zum Schutz der physischen und psychischen Gesundheit als relevant erachtet werden.
«Das Bewusstsein für Gewalt am Arbeitsplatz hat stark zugenommen.»
Wie gehen Sie vor, wenn Sie ein Unternehmen mit einem Anliegen kontaktiert?
Wir beginnen immer mit einer umfassenden Situationsklärung, die wir im Gespräch mit Sicherheitsbeauftragten oder Personalverantwortlichen durchführen. Im Bereich der Gewaltprävention verschaff en wir uns zuerst ein Bild vom Unternehmen: Welche Art von Betrieb ist es? Wo und wie findet der Kundenkontakt statt: am Schalter, in Einzelbüros oder vielleicht bei externen Terminen? Auch die Arbeitswege des Personals sind relevant: Wie gelangen die Mitarbeitenden vom Auto oder Bahnhof ins Unternehmen, welche Eingänge werden genutzt? In weiteren Schritten überprüfen wir die Örtlichkeiten. Ein wichtiger Aspekt dabei ist die Einrichtung der Arbeitsbereiche und Fluchtwege. So prüfen wir zum Beispiel, ob Mitarbeitende im Falle einer Eskalation das Büro schnell und sicher verlassen können. Wir analysieren auch das Verhalten der Mitarbeitenden in Stresssituationen und bei Grenzüberschreitungen: Wie reagieren sie, und welche Möglichkeiten haben sie, sich physisch und verbal aus der Gefahrenzone zurückzuziehen?
Sie erwähnten die Prävention von Raubüberfällen: Was muss man sich konkret darunter vorstellen?
Im Bereich der Raubprävention beobachten wir zusätzlich zur baulichen Überprüfung auch die Verhaltensmuster der Mitarbeitenden: Wer kommt morgens als Erstes, wer bleibt am längsten? Wer ist wann allein im Gebäude? Diese Details sind entscheidend, um ein vollständiges Bild der Sicherheitskultur eines Unternehmens zu erhalten. Dabei schlüpfen wir in die Rolle eines potenziellen Aggressors: Wie bewegen sich die Mitarbeitenden, wenn sie in den Lift steigen? Schaffe ich es, mich unbemerkt im Gebäude zu bewegen? Sind die Mitarbeitenden zum Beispiel durch AirPods oder Handy abgelenkt, und bemerken sie deshalb einen potenziellen Verfolger nicht?
Sascha Dahinden
Sascha Dahinden ist seit 2020 für das Unternehmen SeCoach GmbH in Hitzkirch tätig, das Sicherheitsschulungen für Unternehmen anbietet. 2024 übernahm er das Unternehmen vom ehemaligen Inhaber Roland Hodel. Zuvor war er als Berufsmilitär tätig, musste allerdings nach einem Unfall seine Karriere neu ausrichten. Er absolvierte ein betriebswirtschaftliches Studium und ein CAS in Gewalt prävention (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften). Website: secoach.ch
Wie gelingt Ihnen die Verwandlung in die Rolle eines potenziellen Aggressors?
Dieser Perspektivwechsel erfordert ein gewisses Mass an «krimineller Energie», die notwendig ist, um Sicherheitslücken aufzudecken. Diese Erkenntnisse sind essenziell für unsere Schulungen. Wenn wir den Mitarbeitenden konkret aufzeigen können, wo die Schwachstellen liegen und wie sie diese mit einfachen Verhaltensänderungen verbessern können, wird die Notwendigkeit von Sicherheitsmassnahmen deutlich greifbarer.
Wie konzipieren Sie die Seminare zur Gewaltprävention?
Unsere Seminare sind keine reinen Kommunikationskurse, wir setzen auf ein umfassendes Training, das viele Gewaltsituationen und Deeskalationsstrategien einschliesst. Das bedeutet, dass wir nicht nur die verbale Kommunikation, sondern auch taktische Elemente üben. Beispielsweise thematisieren wir, wie man sich in der Kundenkommunikation physisch positioniert oder wie man sich im Falle einer Bedrohung am besten zurückzieht. Dabei üben wir auch verschiedene Angriffsszenarien und sowohl den Umgang mit verbalen als auch mit physischen Grenzüberschreitungen oder Suizidandrohungen. Betreff end Gesprächsführung vermitteln wir den Teilnehmenden entsprechende Tools, etwa Standardformulierungen für das Reklamationsmanagement oder Listen von Institutionen, an die sie Anrufende in schwierigen Situationen weitervermitteln können – etwa Schuldenberatung, Notfallseelsorge usw. Ein entscheidender Punkt ist auch die Frage, bis zu welchem Zeitpunkt die Mitarbeitenden Unterstützung leisten können und wann sie ein Gespräch beenden sollten.
«Wir schlüpfen in die Rolle eines potenziellen Aggressors.»
Welchen Lernerfolg versprechen Simulationen von Gewaltsituationen?
Ein Schwerpunkt unserer Seminare liegt auf realitätsnahen Situationstrainings. Es ist uns wichtig, dass die Teilnehmenden nachhaltige Lernerfahrungen durch das Erleben von verschiedensten Situationen gewinnen. Dabei kommt es vielfach vor, dass sie ihre Komfortzone verlassen müssen. Selbst wenn der Kopf weiss, dass es sich nur um eine Simulation handelt, reagiert der Körper darauf, indem er Adrenalin ausschüttet. Der Puls steigt, die Teilnehmenden fangen an zu schwitzen und vielleicht sogar zu zittern, was zeigt, dass sie emotional und physisch in die Situation eingebunden sind. Wir planen ausreichend Zeit ein, um diese praktischen Trainings umfassend durchführen zu können und die Teilnehmenden professionell zu betreuen und zu begleiten. Deshalb empfehlen wir unseren Kundinnen und Kunden immer, Tagesseminare durchzuführen, da Halbtagesseminare aus unserer Sicht zu wenig Training beinhalten.
Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit Ihren Kunden?
Jedes Unternehmen hat eigene Bedürfnisse und eine eigene Sicherheitskultur, auf die wir die Schulungen zuschneiden. Ein nachhaltiger Trainingseff ekt ist der Kern jeglicher Präventionsschulung. Wir als Trainer und das Unternehmen müssen dieselben Vorstellungen von der Sicherheit der Mitarbeitenden teilen, damit es zu einer Zusammenarbeit kommen kann. In seltenen Fällen kann es vorkommen, dass diese nicht realisiert werden kann, wenn ein Kunde etwa zu viele Kompromisse fordert, die den Effekt der Nachhaltigkeit gefährden.
Wann stellen Sie eine Zusammenarbeit infrage?
Ein typisches Beispiel ist, wenn ein Unternehmen eine Gewaltpräventionsschulung anfragt, weil es bereits zu Vorfällen gekommen ist und das Unternehmen seiner Fürsorgepflicht nachkommen möchte. Gewisse Unternehmen äussern den Wunsch, den Aufwand zu minimieren und auf die Situationstrainings zu verzichten. In solchen Fällen wird es schwierig, da eine Gewaltpräventionsschulung ohne praktische Situationstrainings wenig Nutzen bringt. Nachhaltige Prävention erfordert, dass die Mitarbeitenden nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch auf schwierige oder gefährliche Situationen vorbereitet werden. Ohne diese realitätsnahen Übungen bleibt der Trainingseffekt oberflächlich, und die Schulung verfehlt ihren eigentlichen Zweck.
Wie schätzen Sie die Nachhaltigkeit von Gewaltpräventionsschulungen ein?
Es ist schwierig, eine allgemeingültige Aussage zur Nachhaltigkeit solcher Schulungen zu treffen, da diese stark vom jeweiligen Dienstleistungssektor abhängt. Es gibt Einrichtungen, wo Mitarbeitende täglich mit Gewaltsituationen konfrontiert sind. Dadurch werden die Schulungsinhalte regelmässig angewendet und gefestigt. In Unternehmen, in denen solche Vorfälle seltener auftreten, können die Effekte der Schulung hingegen schneller verblassen. Die Nachhaltigkeit hängt entscheidend davon ab, wie die Sicherheitskultur im Unternehmen von den Führungskräften vorgelebt wird. Eine eintägige Schulung kann eine nachhaltige Wirkung von bis zu drei Jahren haben, vorausgesetzt, die Sicherheitskultur im Unternehmen wird aktiv gepflegt.
Können Sie das an einem konkreten Beispiel illustrieren?
Ein praktisches Beispiel ist, Sicherheit und Gewaltprävention in Teamsitzungen zu einem festen Thema zu machen und regelmässig Erfahrungen und mögliche Lösungsstrategien auszutauschen. Auch das sogenannte «mentale Judo» trägt zur Nachhaltigkeit bei. Dabei stellen sich die Mitarbeitenden gedanklich bestimmte Situationen vor, um sich auf mögliche Reaktionen vorzubereiten: Was tue ich, wenn jemand wutentbrannt in mein Büro stürmt? Wie reagiere ich, wenn mich jemand in einer Besprechung beleidigt? Spätestens nach drei Jahren sind Auffrischungskurse sinnvoll, in denen bestimmte Themen erneut behandelt und Situationstrainings wiederholt werden. So bleibt die Gewaltprävention lebendig und wirksam. Eine effektive Sicherheitskultur basiert dabei immer auf einem durchdachten Sicherheitskonzept, das klar definiert, wie Mitarbeitende in konkreten Bedrohungssituationen reagieren können und an wen sie sich wenden können, um Unterstützung zu erhalten.
«Ohne realitätsnahe Übungen bleibt der Trainingseffekt oberflächlich.»
Was macht ein durchdachtes Sicherheitskonzept aus?
Zunächst möchte ich betonen, dass ein dreihundert Seiten umfassendes Sicherheitskonzept wenig nützt, wenn es niemand liest. Ein gutes Sicherheitskonzept sollte sich auf das Wesentliche konzentrieren und nur die unbedingt notwendigen Themen abdecken. Entscheidend sind klare Handlungsanweisungen für die Mitarbeitenden, die konkret auf die Arbeitsrealität des Unternehmens zugeschnitten sind. Zum Beispiel eine Regel, dass nach fünf Uhr keine Kunden mehr im Büro empfangen werden, weil dann das Risiko besteht, allein mit einer fremden Person im Gebäude zu sein. Die entsprechenden Handlungsanweisungen müssen auf einer gründlichen Analyse der spezifischen Gefährdungen des Unternehmens basieren. Neben technischen Aspekten wie Zugangskontrollen, Monitoring und Alarmsystemen gehören auch Evakuationspläne, Brandschutz, Krisenmanagement und persönliche Schutzmassnahmen zu einem umfassenden Sicherheitskonzept. Ein weiterer wesentlicher Bestandteil sind obligatorische Trainings und Schulungen, die sicherstellen, dass die Mitarbeitenden im Ernstfall situationsadäquat reagieren können. Je nach Branche und Unternehmensgrösse kann das Thema Sicherheit sehr komplex sein, und es wäre kein Problem, Hunderte von Seiten zu füllen. Wichtig in einem Sicherheitskonzept sind schnell erfassbare Checklisten, die den Mitarbeitenden als Orientierungshilfe dienen, sowie die klare Definition von Ansprechpartnern und Verantwortlichkeiten. Diese Elemente sorgen dafür, dass im Ernstfall jeder weiss, was zu tun ist und wer wofür zuständig ist.
Take Aways
- Gewalt am Arbeitsplatz zeigt sich sowohl in körperlichen als auch verbalen Formen, darunter Grenzüberschreitungen, Drohungen und Raub.
- Die Situationsklärung ist der erste Schritt bei der Zusammenarbeit mit einem Unternehmen, um die spezifischen Sicherheitsbedürfnisse zu verstehen, gefolgt von der Überprüfung der Örtlichkeiten und Verhaltensweisen der Mitarbeitenden.
- Nachhaltige Gewaltpräventionsseminare umfassen praktische Situationstrainings, die realistische Bedrohungsszenarien simulieren.
- Die Nachhaltigkeit von Schulungen zur Gewaltprävention hängt von der Sicherheitskultur des Unternehmens ab.
- Regelmässige Diskussionen der Themen Gewalt und Sicherheit im Team fördern die Sicherheitskultur.
- Ein Sicherheitskonzept sollte klare Handlungsanweisungen in Form von Checklisten und Ansprechpartner für Notfälle enthalten.