Wenn das Unternehmen pubertiert

Donnerstag, 01. Februar 2024 - Karen Heidl
Eine Pubertät durchleben auch Unternehmen. Der Arbeitspsychologe Wolfgang Schnell erklärt, welche Entwicklungen sie im Wachstum erfahren.

Herr Schnell, schnelle Wachstumsphasen geben nicht immer nur Anlass zur Euphorie. Wie verändert sich in dieser Zeit die Teamdynamik?

Es gibt in jedem Team immer die klassischen Phasen Forming, Storming, Norming, Performing (siehe Grafik, Seite 18). Ergiebiger zum Verständnis der Entwicklungsphasen im Leben eines Unternehmens ist aus meiner Sicht das Modell von Friedrich Glasl und Bernard Lievegoed, das sie in ihrem Buch «Dynamische Unternehmensentwicklung» beschrieben haben. Die Autoren legen dar, dass sich Unternehmen ganz ähnlich wie Menschen in ihren Lebensphasen entwickeln. Ein Mensch hat eine frühe Kindheit, eine Pubertät, ein Leben als junger Erwachsener usw. Unternehmen durchleben auch verschiedene Phasen, wobei sie ebenso wenig wie Menschen einzelne Abschnitte überspringen können. In jedem Stadium gibt es Entwicklungsaufgaben, die absolviert werden müssen, damit sich das Unternehmen weiterentwickeln kann.

Nun bin ich aber gespannt zu erfahren, was in der Pubertät eines Unternehmens passiert.

Beginnen wir mit der Kindheit: Die erste Phase ist die sogenannte Pionierphase, also die Start-up-Zeit. Das Team ist klein, man kennt sich, man trinkt zusammen Kaffee, man tauscht sich informell aus, ist flexibel und vertraut sich. Man mag sich, «tickt» ähnlich und hat gemeinsame Ambitionen. Wenn das Unternehmen wächst, muss es aus dieser «Kindheitsphase» in die Differenzierungsphase kommen, wie die Autoren das zweite Stadium bezeichnen. In dieser Phase werden neue Regeln entwickelt, beispielsweise wie Ferien gehandhabt werden, wer welchen Parkplatz erhält oder wie Überstunden ausgeglichen werden. Solche Differenzierungsphasen können auch ältere Unternehmen durchleben, wenn sie sich verändern. Beispielsweise wenn externe Niederlassungen an einem neuen Hauptsitz eingegliedert werden und bestimmte Abläufe und Kompetenzen unklar sind. Wenn das Team grösser wird, funktioniert der kurze, informelle Dienstweg nicht mehr. Prozesse und Verantwortlichkeiten werden unübersichtlicher. Die Menschen brauchen aber Sicherheit und Orientierung darüber, was wie erwartet wird.

Welche Teamgrössen betrifft dies?

Der Amazon-Gründer Jeff Bezos hat einmal gesagt, es sollten nur so viele Menschen zusammenarbeiten, wie von zwei Pizzas satt werden, also fünf oder sechs Personen. Dies wurde auch in der Forschung verifiziert. Fünf bis sechs Personen können einander gut einschätzen und diskutieren. In grossen Gruppen wird es schwierig. Sitzungen lassen sich in grossen Gruppen nur schwer durchführen. Entwicklungsarbeit vollzieht sich am besten in kleinen Teams. Die Grossgruppe kann nur wenige bestimmte Dinge miteinander erarbeiten. Echte Diskussionen und intensiver Austausch funktionieren nicht in einer Grossgruppe. Die Problematik in wachsenden Unternehmen besteht häufig darin, dass die Führungskräfte methodisch mit Grossgruppen genauso arbeiten wollen wie zuvor mit Kleingruppen. Für grosse Gruppen braucht man eine andere Methodik – das ist bereits bei zwanzig Personen der Fall.

Was heisst dies für die Führungskräfte?

In der Differenzierungsphase muss man viel verbindlich regeln und diese Regelungen auch schriftlich festhalten. Man darf aber vor lauter Reglementierung die Menschen nicht vergessen. Es ist wichtig, weiterhin den sozialen Kontakt zu halten – vor allem sollte man nicht überreglementieren. Wenn es zu viele Regeln gibt, neigen Menschen eher dazu, diese zu umgehen.

Eine weitere Gefahr besteht, wenn Unternehmen zu lange in der Differenzierungsphase verharren: Die Menschen werden müde, verlieren ihren Antrieb und empfinden die Arbeit zunehmend als Pflichterfüllung.

Es gibt auch ein Missverständnis bei manchen Führungskräften, die der Meinung sind: «Wenn sich jemand an meine Regeln hält, dann ist er oder sie ein guter Mitarbeiter bzw. eine gute Mitarbeiterin.» So funktioniert Innovation aber nicht. Innovation braucht Experimente und Querdenken.

Die Problematik in wachsenden Unternehmen besteht häufig darin, dass die Führungskräfte methodisch mit Grossgruppen genauso arbeiten wollen wie zuvor mit Kleingruppen.

Wie sieht die Phase nach dieser Differenzierung aus?

In der Integrationsphase geht es wieder darum, Sinn und Identifikation mit der Arbeit und dem Unternehmen zu stärken und die Kundenorientierung zu fördern. Das funktioniert am besten in kleinen integrierten Teams. Diese Phase ist wichtig in der Entwicklung einer Unternehmenskultur, die eine gute Basis auch für die Kundenbeziehungen bildet.

Ist es möglich, diese Phasen sauber zu identifizieren?

Man erkennt als Aussenstehender relativ schnell, welche Themen die Belegschaft hat. Man muss nur einen Blick auf die Traktandenliste der Geschäftsleitungssitzungen werfen – womit beschäftigt man sich? Mit Prozessen oder mit Kundenprojekten? Auch die Prozesse verraten viel darüber, wie strukturiert ein Unternehmen ist.

Jede Veränderung verunsichert Menschen, und Wachstumsszenarien bringen Veränderungen mit sich. In dieser Zeit befassen sich die Mitarbeitenden stärker mit sich selbst und weniger mit Kunden. Das darf natürlich kein Dauerzustand werden. Irgendwann muss der Job erledigt sein: Wie bewerkstelligt man das am besten?

Ich denke, dass ein Schlüssel einer gelingenden Differenzierungsphase Diversität der Mitarbeitenden ist. Riemann und Thomann haben es modellhaft so erklärt: Es gibt Menschen, die eine Tendenz zur Dauer haben, andere haben die entgegengesetzte Tendenz zum Wandel. Menschen differenzieren sich zudem mit der Neigung zu Nähe oder im Gegenteil zu Distanz (siehe Grafik «Riemann-Thomann-Modell»). Dies sind ganz normale Ausprägungen. Diejenigen, die auf Dauer ausgerichtet sind, legen gerne Prozesse fest und erwarten Verbindlichkeit, während «Wandel»-Typen lieber immer wieder Neues anschieben. Diese Menschentypen vertragen sich nicht immer, aber sie brauchen einander. Daran sollte man bei Rekrutierungen denken. Auch wenn man am liebsten Menschen einstellt, die einem selbst ähnlich sind – man sollte immer darüber nachdenken, worauf es ankommt in den jeweiligen Aufgabenfeldern. Man sollte die Menschen so divers wie möglich auswählen – auch hinsichtlich Alter, Geschlecht und Kultur. Ob man auf Dauer oder Nähe ausgelegt ist, hat nichts mit Alter oder Abstammung zu tun.

Welche Empfehlungen würden Sie HR-Verantwortlichen geben, um Führungskräfte zu unterstützen?

In der Differenzierungsphase kann das HR am besten unterstützen, indem es die formale Organisation regelt und diese Regeln visualisiert oder aufschreibt: Entscheidungsspielräume definieren, Prozessbeschreibungen, Archivierungssysteme standardisieren, Funktionsbeschreibungen dokumentieren usw.

Wie beständig ist die Integrationsphase?

Ein Unternehmen, das es bereits zwanzig Jahre gibt, ist nicht automatisch in der Integrationsphase. Wann immer Veränderungen wie Fusionen, Firmenumzüge oder Reorganisationen stattfinden, beginnt das Phasenmodell von neuem und muss sich von der Pionierphase in die Integrationsphase entwickeln. Wenn so etwas zu häufig stattfindet, kann dabei viel Energie verpuffen.

Wolfgang Schnell

Wolfgang Schnell

studierte Pädagogik (Promotion) und Psychologie. Nach seiner beruflichen Karriere als Lehrer an verschiedenen Schulen machte er sich mit ­seinem Beratungs- und Coaching-Unternehmen Abrimos selbständig. Neben seiner Beratungs­tätigkeit ­doziert er u.a. an den Pädagogischen Hochschulen Sankt Gallen und Schaffhausen, an der Technischen Universität in Kaiserslautern und an der ­Kalaidos Fachhochschule Schweiz. Wolfgang Schnell ist Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Arbeits- und Organisationspsychologie (sgaop).
Mehr Informationen: abrimos.ch

Die letzte Phase nach Glasl und Lievegoed ist die Assoziationsphase, was ist darunter zu verstehen?

Diese Phase zeichnet sich durch eine hohe Stabilität der internen und externen Beziehungen aus. Aber ich habe noch kein Unternehmen in dieser hohen Phase erlebt. Die Marktdynamiken sind seit den neunziger Jahren zu ausgeprägt, weshalb es immer wieder Veränderungen gibt. Das Modell ist Anfang der neunziger Jahre entwickelt worden; damals hatte man vielleicht noch andere Perspektiven.

Take Aways

  • Unternehmen durchlaufen nach dem Modell von Glasl/Lievegoed verschiedene Phasen ihrer Entwicklung, vergleichbar mit den Lebensphasen von Menschen: von der Pionierphase über die Differenzierungs- und Integrationsphase bis zur Assoziationsphase.
  • In der Pionierphase ist das Team klein, informell, flexibel und vertrauensvoll. Mit dem Wachstum müssen Unternehmen in die Differenzierungsphase übergehen, in der klare Regeln und Strukturen für grössere Teams festgelegt werden.
  • In der Differenzierungsphase ist es wichtig, Regeln festzulegen, ohne den sozialen Kontakt zu vernachlässigen. Überreglementierung kann kontraproduktiv sein, und zu lange in dieser Phase zu verharren, kann zum Verlust des Arbeitsantriebs führen.
  • Die Integrationsphase fördert Sinn, Identifikation und Kundenorientierung in kleinen integrierten Teams.
  • Die Assoziationsphase zeichnet sich durch eine hohe Stabilität der internen und externen Beziehungen aus.
  • Um die Polarität von Innovation und Organisation zu managen, empfiehlt Dr. Wolfgang Schnell, auf Diversität von Mitarbeitenden zu achten.

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