Benjamin von Stuckrad-Barre hat die Opferfrage in seinem kürzlich erschienenen Buch «Noch wach?» in den Dialogen einer Frauengruppe von allen Seiten beleuchtet. Diese Gruppe formiert sich aus Mitarbeiterinnen eines deutschen Medienunternehmens, die gegen den Machtmissbrauch und die sexuell motivierten Avancen eines Chefredaktors gegenüber jüngeren Kolleginnen vorgehen wollen. Stuckrad-Barre nennt diese Zusammenkünfte, in denen der fiktive Ich-Autor als eine Art männlicher Support auftritt, ironisch «Bonobo-Gruppe». Das ist der Ton des Buches: Ironisierung. Vor ihr ist keine Figur dieser Erzählung sicher, auch der Ich-Erzähler nicht. Diese stilistische Herangehensweise wird gelegentlich kritisiert ebenso wie die Nähe zu realen Begebenheiten und Personen, die zweifelhafte literarische Qualität des doch sehr unterhaltsamen Erzählstils, die fragliche moralische Integrität des Autors mal gerügt, mal gelobt wird (siehe ZDF).
Ich denke, dass es ein wirklich gutes Buch ist, das zwar auch bald wieder in Vergessenheit geraten wird, doch in dem hypersensiblen Diskurs zu Machtmissbrauch einige störende Facetten in die in Schwarzweiss-Manier aufgemachten Opferversionen einbringt.
Eine solche Opferversion ihrer Erfahrungen als Redaktionsmitglied der Schweizer Wochenzeitschrift «Das Magazin» hat Anuschka Roshani im deutschen Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» verbreitet. Allerdings zeigten sich im Verlauf der bisherigen Untersuchungen zum Thema (diese sind aufgrund verschiedener juristischer Verfahren noch nicht abgeschlossen) ebenfalls störende Nuancen – verzerrende Erinnerungsmixturen, uneindeutige Intentionen. Und schon gibt es auch dazu ein Buch («Anuschka und Finn»), herausgebracht von Roger Schawinski, der es im Selbstverlag nach einer Blitzproduktion in den Handel gebracht hat. Es liest sich ganz so, wie man es von einem routinierten Journalisten erwarten darf – mit People-Press-Qualitäten, allerdings auch mit wahrscheinlich noch kürzerer Halbwertszeit als das Werk von Stuckrad-Barre.
Beim Lesen dieser beiden Werke musste ich in mich hineingrinsen. Ich kenne die Medienszene seit über 30 Jahren, bin mit den Eitelkeiten der Menschen in dieser Branche bestens vertraut: mit dem Streben, sich im Schatten der Chefredaktionen und C-Levels zu sonnen, mit der Selbstüberhöhung innerhalb der Journalisten-Bubble, mit der trotzigen Hilflosigkeit beim Gebrauch von Technik und vielen weiteren Eigenarten, die Branchenvertreterinnen und -vertreter so auszeichnen. Man darf sie nicht zu ernst nehmen, denn das erledigen sie schon selbst – unabhängig von Gender und Geschlecht.
Schnell kann man in diesen Umgebungen zum Opfer von irgendwas werden. Wer soll sich der Klagen annehmen? Die Öffentlichkeit? Die Gerichte? Nur die Unternehmen selbst können sich fragen, warum sie blinde Flecke haben und warum nicht früher konsequenter gehandelt wurde, um toxisches Verhalten zu unterbinden.
P.S.: Wer das Thema mal aus einer anderen, nämlich der französischen Perspektive betrachten möchte, sollte zu «Liebes Arschloch» von Virginie Despentes greifen, einem Roman, in dem das Thema aus mehreren Perspektiven beleuchtet wird und es einige überraschende Wendungen gibt.