Ist die Ursache einer Arbeitsunfähigkeit für den Arbeitgeber nicht greif- oder sichtbar, stellt sich mitunter Misstrauen gegenüber der Ehrlichkeit des Arbeitnehmers ein. Im Folgenden geht es um den praxisrelevanten rechtlichen Rahmen im Umgang mit krankheitsbedingt arbeitsunfähigen Arbeitnehmern.
Wann führt eine Krankheit zur Arbeitsunfähigkeit?
«Eine Krankheit im Sinne des Arbeitsrechts liegt dann vor, wenn die physische oder psychische Gesundheit des Arbeitnehmers derart beeinträchtigt ist, dass es ihm nicht möglich oder nicht zumutbar ist, zu arbeiten.»[1] Eine Krankheit führt somit nicht zwangsläufig und im Sinne eines Automatismus zu einer Arbeitsunfähigkeit. Massgebend ist vielmehr, ob aufgrund der Krankheit die konkret geschuldete Arbeitstätigkeit noch ausgeübt werden kann oder nicht. So wird ein Büroangestellter mit einem gebrochenen kleinen Finger seine Arbeit noch verrichten können, wohingegen ein Konzertpianist daran gehindert wäre.
Ein Sonderfall liegt bei einer Arbeitsunfähigkeit vor, die sich lediglich auf den aktuellen Arbeitsplatz bezieht, während der Arbeitnehmer ansonsten aber uneingeschränkt arbeitsfähig wäre. Man spricht dann von einer «arbeitsplatzbezogenen» Arbeitsunfähigkeit. Ihr Hauptanwendungsfall ist häufig eine Konfliktsituation am Arbeitsplatz. Der Arbeitnehmer hat auch bei einer arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit einen Lohnfortzahlungsanspruch gemäss Art. 324a OR.
Das Arztzeugnis
Normalerweise legen Arbeitnehmer ihren Arbeitgebern im Krankheitsfall ein Arztzeugnis vor. Es gibt weder eine gesetzliche Formvorschrift noch Bestimmungen über die inhaltliche Ausgestaltung von Arztzeugnissen. Immerhin sieht Art. 34 Abs. 1 der Standesordnung FMH vor, dass Arztzeugnisse als Urkunden auszustellen sind und dass der Zweck, das Ausstellungsdatum und der Empfänger des Zeugnisses angegeben werden müssen.
Im Praxisalltag äussern sich Arztzeugnisse in der Regel nur über die Dauer und den prozentualen Umfang der Arbeitsunfähigkeit, nicht aber über den Krankheitsgrund. Der Arbeitnehmer ist aus datenschutzrechtlichen Gründen auch nicht verpflichtet, die Ursache seiner Arbeitsverhinderung mitzuteilen, ausser wenn durch die Erkrankung eine Ansteckungsgefahr für die Arbeitskollegen besteht.[2]
Häufig wird in Arbeitszeugnissen die Arbeitsunfähigkeit rückwirkend festgestellt. Dies sollte jedoch nur in Ausnahmesituationen und höchstens für ein paar Tage erfolgen, wobei allerdings die Nachvollziehbarkeit und Verifizierbarkeit stets gegeben sein müssen.[3] Auch die Ärztegesellschaft Zürich vertritt die Auffassung, dass rückwirkende Arztzeugnisse nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt sein können und dass in jedem Fall eine Woche nicht überschritten werden dürfe. Zudem wird für ein rückwirkend ausgestelltes Zeugnis der Vermerk «Nach Angaben des Patienten» empfohlen.[4] Ein rückwirkend ausgestelltes Arztzeugnis könnte als Gefälligkeitszeugnis angesehen werden, was für Ärzte straf- und standesrechtliche Konsequenzen haben kann.[5] Die Gerichte schreiben Arztzeugnissen mit weit zurückdatierter Arbeitsunfähigkeit regelmässig einen reduzierten Beweiswert[6] zu oder haben diesen gar ganz verneint.[7]
Beweisfragen
Der Arbeitnehmer trägt gemäss Art. 8 ZGB die Beweislast für seine Arbeitsunfähigkeit. Dies gilt im Übrigen auch, wenn der Arbeitnehmer geltend macht, dass er während der Ferien krank war und es ihm aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich war, sich zu erholen, d. h. Ferien zu beziehen.[8] Dabei gilt es zu beachten, dass mit dem Nachweis der Arbeitsunfähigkeit (z. B. mit einem Arbeitsunfähigkeitszeugnis) nicht per se auch die Ferienunfähigkeit bewiesen wird. Letztere muss der Arbeitnehmer gesondert belegen können.
Eine Umkehr der Beweislast betreffend Arbeitsunfähigkeit findet nach nicht unumstrittener Lehrmeinung nur dann statt, wenn gemäss Arbeitsvertrag erst ab einer bestimmten Anzahl von Tagen ein Arztzeugnis vorzulegen ist. In solchen Fällen trägt der Arbeitgeber die Beweislast, dass der Arbeitnehmer während des Zeitraums, für den kein Arztzeugnis vorzulegen war, nicht arbeitsunfähig war.[9] Insofern wäre es dem Arbeitgeber sogar zu empfehlen, im Arbeitsvertrag vorzusehen, dass der Arbeitnehmer im Krankheitsfall bereits ab dem ersten Tag seiner Arbeitsunfähigkeit unaufgefordert ein Arztzeugnis vorzulegen hat.[10] Mit einer solchen Regelung können Arbeitgeber zwar vorgetäuschten Kurzabsenzen vorbeugen, sie könnte jedoch von ehrlichen Mitarbeitern als schikanös empfunden werden.
Das wichtigste (wenn auch nicht einzige) Beweismittel des Arbeitnehmers für seine Arbeitsunfähigkeit ist das Arztzeugnis. «Das Arztzeugnis ist aber kein absolutes Beweismittel, sondern lediglich eine Parteibehauptung. Es bleibt eine Frage der Beweiswürdigung, ob ein Gericht auf ein ärztliches Zeugnis abstellt. Nicht beweisbildend sind in der Regel Arztzeugnisse, die sich allein auf die Patientenschilderung abstützen und ohne eigene objektive Feststellungen des Arztes oder erst Monate später ausgestellt werden.»[11]
Den Arztzeugnissen von Hausärzten billigen die Gerichte regelmässig eine geringere Beweiskraft zu. Das Eidgenössische Versicherungsgericht hielt in diesem Zusammenhang Folgendes fest: «In Bezug auf Berichte von Hausärzten darf und soll der Richter der Erfahrungstatsache Rechnung tragen, dass Hausärzte mitunter im Hinblick auf ihre auftragsrechtliche Vertrauensstellung in Zweifelsfällen eher zugunsten ihrer Patienten aussagen.»[12]
Wie bereits erwähnt, können die arbeitsvertraglichen Regelungen vorsehen, dass der Arbeitnehmer ab einer bestimmten Anzahl Krankheitstage unaufgefordert ein Arztzeugnis vorzulegen hat. Der Beweis der Arbeitsunfähigkeit muss jedoch nicht zwingend mit einem Arztzeugnis erfolgen, sondern kann auch mit anderen Beweismitteln erbracht werden (z. B. Zeugenaussagen, Fotos, Videos, Gutachten etc.). Entsprechend sind vertragliche Regelungen, die eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ausschliesslich an die Vorlage eines Arztzeugnisses durch den Arbeitnehmer knüpfen, unzulässig. Die Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers im Krankheitsfall richtet sich ausschliesslich nach Art. 324a OR. Massgebend ist die Frage, ob der Arbeitnehmer arbeitsfähig ist oder nicht. Es handelt sich dabei um eine relativ zwingende Norm, von der zuungunsten des Arbeitgebers nicht abgewichen werden darf. Insbesondere darf die Beweislage des Arbeitnehmers nicht erschwert werden.[13]
Vertrauensarzt
Zweifelt der Arbeitgeber aufgrund objektiver Anhaltspunkte[14] an der Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers, so kann er vom Arbeitnehmer verlangen, dass er sich durch einen vom Arbeitgeber bezeichneten Vertrauensarzt untersuchen lässt.
Für die entsprechenden Kosten hat der Arbeitgeber aufzukommen.[15] Grundlage für dieses Recht bilden die allgemeine Treuepflicht des Arbeitnehmers (Art. 321a Abs. 1 OR) und das Weisungsrecht des Arbeitgebers (Art. 321d OR). Da bei einer vertrauensärztlichen Untersuchung Personendaten bearbeitet werden, sind Art. 328b OR und das Datenschutzgesetz zu beachten.
Der Arbeitgeber ist gut beraten, wenn er möglichst rasch eine vertrauensärztliche Untersuchung anordnet. Weil eine rückwirkende Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers nur eingeschränkt aussagekräftig ist, wird die vertrauensärztliche Untersuchung im Optimalfall noch vor Ablauf der durch das Arztzeugnis bescheinigten Krankschreibung durchgeführt. Der Arbeitnehmer wird hingegen ein Interesse daran haben, diese Untersuchung möglichst lange zu verzögern. So kann er z. B. einwenden, dass ihm die geforderte Untersuchung nicht zumutbar sei, etwa wegen der Person des Arztes,[16] mangelhafter Qualifikation des Arztes,[17] mangelnder Informationen seitens der Arbeitgeberin,[18] Transportunfähigkeit oder einer hochansteckenden Krankheit, an der er leide.[19]
Sollte das Arztzeugnis des Vertrauensarztes dem durch den Arbeitnehmer beigebrachten Zeugnis widersprechen, so darf sich der Arbeitgeber grundsätzlich auf das Zeugnis des eigenen Vertrauensarztes stützen und den Arbeitnehmer auffordern, seine Arbeit wieder aufzunehmen.[20] Dem Arbeitgeber ist zu empfehlen, dem Arbeitnehmer den Bericht des Vertrauensarztes zukommen zu lassen, damit dieser bzw. sein behandelnder Arzt dazu Stellung nehmen kann.[21]
Sollte der Arbeitnehmer seine Arbeit trotz Aufforderung der Arbeitgeberin nicht wieder aufnehmen – zumindest in dem Umfang, in dem er durch den Vertrauensarzt für arbeitsfähig erachtet wurde – ist dem Arbeitgeber zu empfehlen, die Lohnzahlungen einzustellen. Im Streitfall hat dann ein Richter die beiden sich widersprechenden Arztzeugnisse, allenfalls unter Berücksichtigung weiterer Beweismittel, zu würdigen.
[1] OGer LU JAR 2007, S. 461 ff.
[2] Humbert: Sorgenkind vorgetäuschte Krankheit, in: Festschrift Wolfgang Portmann. Zürich 2020, S. 311.
[3] Schweizerische Ärztezeitung: Die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit, Das Arztzeugnis – Teil 1 vom 14. April 2021, (zuletzt besucht am 7. Juni 2021).
[4] Merkblatt Arbeitsunfähigkeit/Absentismus, Empfehlungen zur Ausstellung von ärztlichen Zeugnissen der Ärztegesellschaft des Kantons Zürich vom 29. September 2020 (zuletzt besucht am 7. Juni 2021).
[5] Z. B. Fälschung von Ausweisen gemäss Art. 252 StGB und Verstoss gegen Art. 34 Abs. 2 Standesordnung FMH, wonach die Ausstellung von Gefälligkeitszeugnissen unzulässig ist.
[6] AGer ZH in Entscheide 2006 Nr. 11; vgl. auch AGer ZH in ZR 99 (2000) Nr. 90.
[7] JAR 2016 S. 475.
[8] Streiff/von Kaenel/Rudolph: Praxiskommentar zum Arbeitsrecht, Art. 329a N 6.
[9] Für eine Beweislastumkehr z. B. BSK OR I–Portmann/Rudolph, Art. 324a N 25; gegen eine Beweislastumkehr z. B. Streiff/von Kaenel/Rudolph, a.a.O., Art. 324a/b N 12.
[10] Eine solche Regelung wurde vom Arbeitsgericht Zürich als zulässig erachtet (Entscheide 2016 Nr. 17.)
[11] Verwaltungsgericht ZH, Urteile VB.2014.00739 und VB.2015.00018 vom 30. September 2015.
[12] BGE 125 V 351 E. 3.b.cc.
[13] Streiff/von Kaenel/Rudolph, a.a.O., Art. 3254a/b N 12.
[14] Siehe Kasten.
[15] Streiff/von Kaenel/Rudolph, a.a.O., Art. 324a/b N12.
[16] Z. B. Freundschaft zu Organen des Arbeitgebers, Feindschaft zum Arbeitnehmer, eigenes Interesse am Ausgang eines Verfahrens.
[17] Z. B. wenn sich ein Arbeitnehmer ohne Anzeichen einer psychischen Erkrankung einer Untersuchung bei einem Facharzt für Psychiatrie unterziehen soll.
[18] Z. B. betreffend Zeitraum und Zweck der Untersuchung oder betreffend Kostentragungspflicht.
[19] Siehe zum Ganzen und mit zahlreichen Hinweisen zu Gerichtsentscheiden und zu weiterführender Literatur: Humbert/Lerch, in: Fachhandbuch Arbeitsrecht. Zürich 2018. 11.199 ff.
[20] Müller, AJP 2010, 272.
[21] Humbert/Lerch, in: Fachhandbuch Arbeitsrecht. Zürich 2018. 11.201 f.
Indizien für das Vorliegen einer vorgetäuschten Krankheit
Die Gerichte mussten sich in zahlreichen Fällen mit der Frage auseinandersetzen, ob der Arbeitnehmer seine Arbeitsunfähigkeit bloss vorgetäuscht hatte. Die Rechtsprechung hat folgende Indizien genannt, die für eine vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit sprechen könnten:[1]
- Das Arztzeugnis stützt sich einzig auf Schilderungen des Patienten ab, ohne dass der Arzt eine medizinische Untersuchung vornimmt oder seine eigenen objektiven Feststellungen im Zeugnis erwähnt.[2] Diese Problematik wird sich noch verschärfen, zumal Telemedizin-Anbieter auch auf telefonische Anfragen hin Arztzeugnisse ausstellen.[3]
- Die Krankschreibung erfolgt rückwirkend für mehr als ein paar Tage.[4] Die Rückdatierung muss in einem gewissen Umfang jedoch hingenommen werden, zumal ein Arbeitnehmer den Arzt häufig nicht gleich zu Beginn der Krankheit aufsuchen wird und dies aufgrund der Verfügbarkeit des Arztes allenfalls auch nicht tun kann.
- Der Arbeitnehmer wechselt häufig den Arzt oder der Arzt ist gar bekannt dafür, Gefälligkeitszeugnisse auszustellen.[5]
- Der Arbeitnehmer weist unterschiedliche, sich widersprechende Zeugnisse vor.[6]
- Zwischen dem Arbeitnehmer und dem das Zeugnis ausstellenden Arzt besteht eine Freundschaft.[7]
- Der Arbeitnehmer unternimmt in seiner Freizeit Aktivitäten, die sich nicht mit seiner Diagnose in Übereinstimmung bringen lassen.[8]
- Der Arbeitnehmer verweigert die Entbindung vom Arztgeheimnis oder er weigert sich unter Berufung auf das Arztgeheimnis, den vertrauensärztlichen Befund an den Arbeitgeber weiterzuleiten.[9]
- Der Arbeitnehmer weigert sich unberechtigterweise, an einer vertrauensärztlichen Untersuchung teilzunehmen.[10]
- Auch der Zeitpunkt der Krankmeldung kann den Arbeitgeber berechtigterweise an der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers zweifeln lassen, z. B. wenn die Krankschreibung genau auf den Zeitpunkt erfolgt, an welchem dem Arbeitnehmer zuvor ein Ferienbezug verweigert wurde,[11] oder bei Krankmeldungen unmittelbar vor oder nach dem Aussprechen der Kündigung durch den Arbeitgeber.[12]
- Häufige Kurzabsenzen eines Arbeitnehmers, insbesondere wenn sie stets am selben Wochentag auftreten, könnten ebenfalls berechtigte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers aufkommen lassen.
[1] Siehe zum Ganzen und mit zahlreichen Hinweisen zu den jeweiligen Gerichtsentscheiden und zu weiterführender Literatur: Humbert, in: Festschrift Wolfgang Portmann, Zürich 2020, S. 320 ff.; Humbert/Lerch, in: Fachhandbuch Arbeitsrecht, Zürich 2018, 11.179 ff.
[2] AGer ZH in Entscheide 2004 Nr. 9.
[3] Richtlinien von Medgate betreffend Ausstellung von Arztzeugnissen nach Telekonsultation vom Februar 2020 (zuletzt besucht am 8. Juni 2021).
[4] Siehe oben Ziffer B.
[5] BGE 1C_64/2008.
[6] BGE 1C_64/2008.
[7] OGer BE Urteil ZK 10666.
[8] GSG BS, in: BJM 1975, S. 320; GSG BS, in: JAR 1980, S. 209; AGer ZH, in: ZR 2002, S. 229.
[9] BGE 8C_760/2012 = JAR 2014 S. 315 = ARV 2013 S. 307.
[10] AppGer GE JAR 1982 S. 113.
[11] KGer BL, Urteil 100 06 1229; BGE 1C_64/2008.
[12] BGE 4A_98/2011, in ARV 2011, 281.
Take-Aways
- Krankheiten führen nicht automatisch zu Arbeitsunfähigkeit. Zu prüfen ist, welche Auswirkungen die konkrete Erkrankung des Arbeitnehmers auf seine geschuldete Arbeitstätigkeit hat.
- Für Form und Inhalt des Arztzeugnisses gibt es keine verbindlichen Vorschriften, es handelt sich aber um eine Urkunde. Deren Stellenwert bei einer gerichtlichen Verhandlung kann variieren. Wird das Zeugnis z. B. erst nachträglich oder nur durch den Hausarzt ausgestellt, kann sein Beweiswert reduziert sein.
- Die Einschaltung eines Vertrauensarztes durch den Arbeitgeber kann die Position des Arbeitgebers sachlich absichern und im Konfliktfall die Beweislage für den Arbeitgeber erheblich verbessern. Dazu sollte das Gutachten des Vertrauensarztes dem behandelnden Arzt des Arbeitnehmers zur Stellungnahme ausgehändigt werden.