Scheinselbständigkeit: Eine Problematik mit weitreichenden Folgen für Unternehmen

Dienstag, 30. Juli 2024 - Oliver Bermejo
Ob jemand als angestellt oder selbständig gilt, wird durch die Behörden im ­Einzelfall festgelegt. Die Bezeichnung im Vertrag allein ist hier ­irrelevant. Wird ein Auftragnehmer zu einem Arbeitnehmer umqualifiziert, kann das für das Unternehmen kostspielige Nachzahlungen unter anderem an Sozial­versicherungsbeiträgen nach sich ziehen.

Viele Firmen nutzen die Dienste von Selbständigerwerbenden, um ihre personellen Ressourcen zu erweitern. Dadurch können sie flexibler auf erhöhte Arbeitslasten reagieren, ohne den arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Normen unterworfen zu sein. Die Unternehmen verkennen jedoch häufig beim Abschluss von Verträgen mit Freelancern oder freien Mitarbeitern, dass sich die Frage, ob eine selbständige oder unselbständige Erwerbstätigkeit vorliegt, nicht von der Vertragsbezeichnung oder vom Parteiwillen abhängt, sondern ausschliesslich auf die wirtschaftlichen Gegebenheiten abgestellt wird. Wird ein Scheinselbständiger im Nachhinein durch die Behörden oder Gerichte zu einem Arbeitnehmer umqualifiziert, kann dies weitreichende administrative und finanzielle Folgen für das Unternehmen und auch für dessen Organe haben.

Was ist Scheinselbständigkeit?

Der Begriff Scheinselbständigkeit oder auch unechte Selbständigkeit bezeichnet eine Situation, in der eine Person auf der Grundlage eines privatrechtlichen Vertrags, der formell kein Arbeitsvertrag ist (z.B. eines Auftrags- oder Werkvertrags), persönliche Arbeitsleistung erbringt und von ihrem Vertragspartner wirtschaftlich abhängig ist. In solchen Konstellationen liegt in materieller Hinsicht ein Arbeitsverhältnis vor, obschon die Parteien dies nicht beabsichtigt und den Vertrag nicht als solchen bezeichnet haben. Die Scheinselbständigkeit ist im Gesetz nicht definiert, sondern es ist anhand verschiedener Merkmale zu prüfen, ob eine Person tatsächlich selbständig ist oder sich in einer Situation der Scheinselbständigkeit befindet.

Kriterien zur Abgrenzung zwischen selbständiger und unselbständiger Erwerbstätigkeit

Als unselbständig tätig gilt grundsätzlich, wer kein spezifisches Unternehmerrisiko trägt und von einer Arbeitgeberin in wirtschaftlicher bzw. arbeitsorganisatorischer Hinsicht abhängig ist. Merkmale für das Bestehen eines Unternehmerrisikos sind namentlich das Tätigen erheblicher Investitionen (z.B. durch das Einbringen von Eigenmitteln oder die Anschaffung von Produktionsmitteln), die Verlusttragung, das Tragen des Inkasso- und Delkredererisikos, die Unkostentragung, das Handeln im eigenen Namen und auf eigene Rechnung, das Beschaffen von Aufträgen (unterschiedlicher Auftraggeber), die Beschäftigung von eigenem Personal sowie eigene Geschäftsräumlichkeiten.[1]

Das wesentliche Element des arbeitsorganisatorischen Unterordnungsverhältnisses ist die Weisungsgebundenheit. Einer Arbeitgeberin kommt die Weisungsbefugnis zu, womit ein Arbeitnehmer persönlich, organisatorisch, zeitlich und zu einem gewissen Grad wirtschaftlich der Direktionsgewalt der Arbeitgeberin unterliegt.[2]

Beurteilung im Einzelfall

Die Vielfalt der im Wirtschaftsleben anzutreffenden Sachverhalte zwingt dazu, die beitragsrechtliche Stellung einer erwerbstätigen Person jeweils unter Würdigung der gesamten Umstände des Einzelfalls zu beurteilen. Weil dabei vielfach Merkmale beider Erwerbsarten zutage treten, muss sich der Entscheid oft danach richten, welche dieser Merkmale im konkreten Fall überwiegen.[3] Nach der Rechtsprechung ist nicht entscheidend, wie die Parteien das Vertragsverhältnis bezeichnet haben oder welche Feststellungen oder gegenseitigen Rechte und Pflichten schriftlich festgehalten wurden. Massgebend sind vielmehr die effektiven wirtschaftlichen Gegebenheiten. Die zivilrechtlichen Verhältnisse vermögen dabei allenfalls gewisse Anhaltspunkte für die AHV-rechtliche Qualifikation zu bieten, ohne jedoch ausschlaggebend zu sein.[4]

Kommt nun ein Gericht bei der materiellen Prüfung der gegenseitigen Rechte und Pflichten z.B. eines von den Parteien als Auftrag verstandenen Vertragsverhältnisses zum Schluss, dass die Merkmale für den Bestand eines Arbeitsverhältnisses überwiegen, führt dies zu einer Umqualifikation dieses Rechtsverhältnisses.

Folgen der Scheinselbständigkeit für Unternehmen

Wie eingangs angedeutet, hat die Umqualifikation einer beabsichtigten selbständigen Erwerbstätigkeit in ein Arbeitsverhältnis für die Arbeitgeberin (vermeintliche Auftraggeberin) erhebliche Konsequenzen. Mit der Umqualifikation des Honorars zu Lohn kann bei der Arbeitgeberin ein erheblicher finanzieller und administrativer Aufwand entstehen. Besonders problematisch wird es, wenn es sich um mehrere langfristige Vertragsverhältnisse handelt, da dann sämtliche Sozialversicherungen (AHV, ALV, UVG, KTG, BVG) und allenfalls auch Quellensteuern rückwirkend abgerechnet werden müssen.

Für die periodischen Beiträge gegenüber den Sozialversicherungen ist grundsätzlich die Arbeitgeberin Schuldnerin, und zwar sowohl für die Arbeitgeber- als auch die Arbeitnehmerbeiträge. Die Verjährungsfrist für diese Sozialversicherungsbeiträge beträgt fünf Jahre (Art. 16 AHVG und Art. 41 Abs. 2 BVG), womit eine Arbeitgeberin mit Nachforderungen in namhafter Höhe konfrontiert werden kann.

Gemäss Art. 52 AHVG haftet primär die Arbeitgeberin für einen der Ausgleichskasse absichtlich oder grobfahrlässig zugefügten Schaden. Ist eine juristische Person Arbeitgeberin, so haften die Mitglieder der Verwaltung (z.B. der Verwaltungsrat) und alle mit der Geschäftsführung oder Liquidation befassten Personen subsidiär (Art. 52 Abs. 2 AHVG). Mit anderen Worten: Reichen die Aktiven eines Unternehmens nicht aus, um die nachträglich geforderten Sozialversicherungsbeiträge zu decken, können deren Organe persönlich für den während ihrer Amtszeit den Sozialversicherungen entstandenen Schaden haftbar gemacht werden.

Zusätzlich zu den Ansprüchen der Sozialversicherungen oder des Steueramts muss das Unternehmen mit erheblichen Nachforderungen der betroffenen Arbeitnehmer (vermeintliche Auftragnehmer) aus arbeitsrechtlichen Bestimmungen rechnen. In der Regel kommt das Arbeitsgesetz zur Anwendung, womit Arbeitszeiten einzuhalten und gemäss Art. 13 ArG Überzeit mit einem Zuschlag von 125% zu entschädigen wäre. Dasselbe gilt gemäss Art. 321c Abs. 3 OR grundsätzlich auch für Überstunden, sofern diese Entschädigung im Arbeitsvertrag nicht schriftlich wegbedungen wurde (woran naturgemäss beim Abschluss eines vermeintlichen Auftrags nicht gedacht wird). Sollte ein Gesamt­arbeitsvertrag anwendbar sein, sind in der Regel auch ­Mindestlohnbestimmungen zu beachten. Des Weiteren hat ein Arbeitnehmer Anspruch auf mindestens vier Wochen bezahlte Ferien im Jahr. Geldwerte Forderungen eines Arbeitnehmers verjähren nach fünf Jahren (Art. 128 Ziff. 3 OR), womit auch diese Ansprüche finanziell erheblich ins Gewicht fallen können.

Des Weiteren profitieren Arbeitnehmer von Kündigungsschutzbestimmungen, die bei der Beendigung eines in einen Arbeitsvertrag umqualifizierten Auftragsverhältnisses zu beachten sind. So kommt das dem Auftragsrecht inhärente jederzeitige Kündigungs- oder Widerrufsrecht gemäss Art. 404 OR nicht zur Anwendung, sondern es sind die arbeitsvertraglichen Kündigungsfristen gemäss Art. 335a ff. OR zu beachten. Zudem kann bei krankheits- oder unfallbedingter Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers während einer gewissen Dauer keine Kündigung ausgesprochen werden, bzw. bei einer vorherigen Kündigung verlängert sich die Kündigungsfrist entsprechend (zeitlicher Kündigungsschutz gemäss Art. 336c OR). Des Weiteren könnte sich eine Kündigung auch als missbräuchlich erweisen und eine entsprechende Strafzahlung von bis zu sechs Monatslöhnen nach sich ziehen (sachlicher Kündigungsschutz gemäss Art. 336 ff. OR).

Empfehlungen

In einem ersten Schritt sollten sich Unternehmen, die externe Dienstleister beauftragen, kritisch mit den einzelnen Merkmalen auseinandersetzen, die von den Sozialversicherungsbehörden und den Gerichten zur Unterscheidung zwischen selbständiger und unselbständiger Erwerbstätigkeit herausgearbeitet wurden und das konkrete Vertragsverhältnis darunter subsumieren (siehe Take Aways).

Bei unklaren Verhältnissen ist man als potenzielle Arbeitgeberin gut beraten, sich vorgängig eine Bescheinigung vom Dienstleister vorlegen lassen, dass er bei einer AHV-Ausgleichskasse als Selbständigerwerbender anerkannt ist. Eine solche Bescheinigung bedeutet aber lediglich, dass die Person grundsätzlich selbständig tätig ist und AHV-Beiträge abrechnet. Je nach Konstellation ist es aber selbst in diesem Fall möglich, dass die Person aufgrund der konkreten Tätigkeit letztlich als unselbständig erwerbend eingestuft wird.

Wenn die Zweifel nicht ausgeräumt werden können, könnte vertraglich vereinbart werden, dass das Unternehmen vom Honorar einstweilen Sozialversicherungsbeiträge und gegebenenfalls Quellensteuern in Abzug bringt und zurückhält, bis der Dienstleister eine entsprechende AHV-Anschlussbestätigung als Selbständigererwerbender vorgelegt hat.

Die Problematik der Scheinselbständigkeit kann ferner entschärft werden, wenn der Auftrag nicht an eine natürliche, sondern an eine juristische Person (z.B. eine AG oder eine GmbH) vergeben wird. Doch auch dies ist keine Garantie, insbesondere wenn es sich beim Dienstleister um eine Gesellschaft handelt, deren Aktien oder Stammanteile sich im Besitz einer einzigen Person befinden (sog. Einmann-AG oder Einmann-GmbH). Das Bundesgericht hat einen Beratungsvertrag mit einer Einmann-AG aufgrund der konkreten Ausgestaltung als einen Arbeitsvertrag qualifiziert.[5]

Bei Zweifeln wird dazu geraten, sich rechtlich beraten zu lassen, um Fälle von Scheinselbständigkeit und die damit verbundenen potenziellen Folgen zu vermeiden. Auch bei den zuständigen Ausgleichskassen kann man nützliche Auskünfte erhalten. Die Möglichkeit, von der Ausgleichskasse in Bezug auf ein konkretes Vertragsverhältnis ein verbindliches «Ruling» einzuholen, besteht nach Kenntnisstand des Autors leider nicht.

[1] Wegleitung über den massgebenden Lohn in der AHV, IV und EO (WML), N 1018 f.
[2] BGE 146 V 139, E. 6.6.2.
[3] BGE 144 V 111, E. 4.2.
[4] BGE 122 V 169, E. 3.a.
[5] BGE 4A_134/2017.

Take Aways

Merkmale Selbständigkeit:
  • Eigener Marktauftritt
  • Dienstleistungserbringung für verschiedene Auftraggeber
  • Eigene Büroräumlichkeiten, eigene Einrichtung und eigene Betriebsmittel
  • Eigenes Personal
  • Einkauf von Waren auf eigene Rechnung
  • Rechnungsstellung im eigenen Namen und Tragen des Inkasso- und Delkredererisikos
  • Keinen Weisungen unterworfen, z.B. bei der Einteilung der Arbeitszeit
  • Recht, die Dienstleistung nicht persönlich, sondern durch andere (Stellvertreter, Substitute) zu erbringen
Merkmale Unselbständigkeit:
  • Kein eigener Marktauftritt, ggf. sogar namentliche Nennung auf der Website des Unternehmens
  • Pflicht, die Arbeitsleistung persönlich zu erbringen
  • Weisungsgebundenheit
  • Eingliederung in eine fremde Arbeitsorganisation, Präsenzpflicht und Bindung an Arbeitszeiten und Arbeitsplatz
  • Handeln im fremden Namen und auf fremde Rechnung
  • Kein Inkasso- und Delkredererisiko
  • Anrecht auf arbeitsrechtliche Ansprüche wie Ferienentschädigung, Lohnfortzahlung bei Krankheit, längere Kündigungsfristen

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