Ambulant und stationär

Montag, 09. Dezember 2024 - Gregor Gubser
Sowohl akute Behandlungen als auch die Langzeitpflege erfolgen vermehrt ambulant. Doch auch in Zukunft wird es stationäre Angebote brauchen. Zu diesem Schluss kommen die Fachleute, die anlässlich des Luzerner Kongress Gesellschaftspolitik über die Zukunft des Gesundheitswesens diskutierten.
Prof. Dorothee Guggisberg, Direktorin Hochschule Luzern - Soziale Arbeit Prof. Dorothee Guggisberg, Direktorin Hochschule Luzern - Soziale Arbeit

«Alle sind sich einig: das Gesundheitswesen ist zu teuer.» Mit diesem Konsens eröffnete Prof. Dorothee Guggisberg, Direktorin Hochschule Luzern – Soziale Arbeit, den Luzerner Kongress Gesellschaftspolitik 2024. Ebenfalls sei man sich einig, dass der Grundsatz «Ambulant vor Stationär» (AvS) sowohl im Spital bei akuten Behandlungen als auch bei der Langzeitpflege berechtigt sei. AvS habe sich als Standard etabliert – auch weil seit 2019 in der Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) festgeschrieben sei, dass bestimmte Eingriffe nur noch im Rahmen einer ambulanten Behandlung vergütet werden. Die Frage, die die Referentinnen und Referenten vor über 120 Fachleuten erörterten: Gilt das auch in Zukunft?

Wann schlägt das Pendel zurück?

Wer die Zukunft gestalten will, muss die Vergangenheit verstehen. Getreu dieser allgemein anerkannten Weisheit blickte Dr. Carlo Knöpfel, Professor für Sozialpolitik und Soziale Arbeit an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, zurück auf die Geschichte der Krankenpflege. Demnach wurden Kranke und Alte noch bis ins 20. Jahrhundert hinein in erster Linie zuhause gepflegt. Nur wer allein war und niemanden hatte, der für sie oder ihn sorgte, fand Unterschlupf in karitativen Fürsorgeinstitutionen, die meist von Klostergemeinschaften geführt wurden. Erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts kamen Spitäler im modernen Sinn auf, die im Zeitgeist der Hochkonjunktur zunehmend technisch hochgerüstet aussichtsreiche Heilbehandlungen anboten und die Bevölkerung vermehrt stationär versorgten. Anschliessend an den Spitalaufenthalt folgten dann längere Aufenthalte zur Kur. Auch Alters- und Pflegeheime kamen in Mode.

Prof. Dr. Carlo Knöpfel, Professor für Sozialpolitik und Soziale Arbeit an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW Prof. Dr. Carlo Knöpfel, Professor für Sozialpolitik und Soziale Arbeit an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW
Dr. Christina Zweifel, Geschäftsführerin Curaviva Schweiz, und Marianne Pfister, Co-Geschäftsführerin Spitex Schweiz Dr. Christina Zweifel, Geschäftsführerin Curaviva Schweiz, und Marianne Pfister, Co-Geschäftsführerin Spitex Schweiz

Heute bewegt sich das Pendel wieder auf die ambulante Seite. Nach einer Operation oder anderen medizinischen Behandlungen möchten die Patienten möglichst rasch wieder nach Hause, während Menschen, die altersbedingt oder wegen chronischen Krankheiten auf Pflege angewiesen sind, möglichst lange in den eigenen vier Wänden leben möchten. Damit das funktioniert, braucht es laut Knöpfel neben der medizinischen Pflege vor allem Betreuung durch Angehörige, Freunde oder Nachbarn. Also Menschen, die mit Pflegebedürftigen Zeit verbringen, den Alltag sowie die medizinische Pflege organisieren. Wer keine persönlichen Betreuungspersonen hat, ist schneller auf einen Platz in einer stationären Einrichtung angewiesen. Der demografische Wandel – mit immer mehr Menschen, die sehr alt werden und immer weniger Familienangehörigen, die sich der Betreuung widmen – wird nach mehr Pflegeheimen verlangen, so die Prognose von Knöpfel. Ein Problem, weil dafür neben der kostspieligen Infrastruktur auch bereits heute die Fachkräfte fehlen. Doch auch das ambulante Setting werde mit der starken Individualisierung zu teuer und könne auch personell nicht gestemmt werden. Das Pendel könnte also wieder zurück in Richtung stationär ausschlagen.

Gemeinsames Ziel von Spitex und Pflegeheimen

«Wir gestalten unser Inputreferat zusammen, weil wir eigentlich dasselbe sagen wollen.» Mit diesen Worten starteten Marianne Pfister, Co-Geschäftsführerin Spitex Schweiz und Dr. Christina Zweifel, Geschäftsführerin Curaviva Schweiz, in ihre gemeinsame Präsentation. Die Chefinnen der vermeintlich konkurrierenden Branchenverbände der ambulanten Pflege (Spitex) und stationären Pflege (Curaviva) unterstrichen: «Das ist doch ein gutes Zeichen für die integrierte Versorgung.» Beide zeigten auf, dass in der Vergangenheit sowohl die Nachfrage nach Spitex-Leistungen sowie auch deren Komplexität gestiegen ist und zugleich die Zahl der Pflegetage in Heimen zugenommen hat und weiter zunehmen wird.  Beide Formen der Pflege haben also auch in Zukunft unbestritten ihre Berechtigung.

Den grössten Handlungsbedarf sehen Pfister und Zweifel bei der Koordination. Es brauche eine koordinierte Versorgung in agilen Netzwerken – und zwar sowohl von staatlichen als auch von privaten Anbietern. Dabei müssten die Menschen im Zentrum stehen. Sie sollen ihre Bedürfnisse einbringen können. Wie bereits Carlo Knöpfel sehen auch sie eine Schlüsselfunktion bei der Betreuung und verweisen darauf, dass über die Ergänzungsleistungen bald auch Entschädigungen für die Betreuung ausgerichtet werden sollen.

Sinkende Kosten dank Ambulantisierung

«Ich bin kein Ambulantisierungsturbo» sagte der selbständige Berater und ehemalige Generalsekretär der kantonalen Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK), Michael Jordi. Er plädiere für einen geordneten Prozess in diese Richtung. Verlagerungspotenzial von stationär zu ambulant sieht er im akut-somatischen Bereich, in der Psychiatrie, der Reha und in der Alterspflege. Dabei sei es wichtig, Evidenz, Relevanz sowie den effektiven Nutzen der Verlagerung zu berücksichtigen. Als Knackpunkt schätzt auch er das soziale Umfeld ein.

 

Michael Jordi, Selbständiger Berater, ehemaliger Generalsekretär der GDK Michael Jordi, Selbständiger Berater, ehemaliger Generalsekretär der GDK

Der Prozess der Ambulantisierung sei durch einen Kanton angestossen worden, der eine Liste von Behandlungen einführte, die nur noch ambulant erfolgen sollten. Weitere Kantone folgten diesem Beispiel. Darauf erfolgte eine Absprache innerhalb der GDK und letztlich die Aufnahme in die KLV. Basierend auf dem Monitoring 2024 des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (OBSAN) zog Jordi eine Zwischenbilanz. Die stationären Behandlungen seien ohnehin rückläufig gewesen. Dieser Rückgang sei durch die bundesweite Regelung aber enorm beschleunigt worden. Er habe aber auch Grenzen. Das Tempo des Veränderungsprozesses nimmt also ab.

Dieser Prozess habe zu einem starken Kostenrückgang für die Kantone gesorgt, während er für die Krankenversicherungen kostenneutral sei. Mit der kürzlich von der Stimmbevölkerung angenommenen Einheitlichen Finanzierung ambulant und stationär (Efas) dürften die Kosten auch für die Prämienzahler sinken. Weitere positive Erkenntnisse aus der Erhebung sind, dass die Patientenzufriedenheit offenbar nicht beeinträchtigt wurde und kein Anstieg von postoperativen Komplikationen zu verzeichnen ist.

Patientenexpertise nutzen

Die Patientenperspektive stellte Susanne Gemdanke, Geschäftsführerin der Patientenorganisation SPO ins Zentrum ihres Referats. Zwar werde in den Marketingauftritten der Leistungserbringer wie auch der Versicherer immer mehr betont, der Mensch stehe im Zentrum - nicht nur als «Patient», sondern als Person mit all ihren Facetten. Eine Feststellung, die aus Sicht von Susanne Gemdanke eigentlich selbstverständlich sein müsste.

Susanne Gedamke, Geschäftsführerin SPO Patientenorganisation Susanne Gedamke, Geschäftsführerin SPO Patientenorganisation

Luzerner Kongress Gesellschaftspolitik

Der Luzerner Kongress Gesellschaftspolitik befasst sich mit aktuellen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen, die eine hohe gesellschaftspolitische Relevanz für die Schweiz haben. Trägerorganisationen des Kongresses sind die Hochschule Luzern, das Luzerner Forum für Sozialversicherungen und Soziale Sicherheit sowie die Universität Luzern.

Das Problem sei, dass wir nicht wüssten, wie die Nutzer des Gesundheitswesens dessen Qualität beurteilen. Der Versuch, die Patientenperspektive besser zu verstehen, zeige sich in einem starken Anstieg der Erhebung von PROMs und PREMs (Patient-Reported Outcome Measures und Patient-Reported Experience Measures) zur Messung der Patientenwahrnehmung.

Patienten und Angehörige erwerben Expertise (Erfahrungswissen) auf dem Weg durch die Behandlung, das gelte laut Gedamke in verstärktem Mass für chronisch Kranke. Patienten wüssten häufig gut Bescheid über ihre Diagnosen und insbesondere das Navigationswissen sei wichtig. Wer das Gesundheitswesen häufig brauche, wisse, wohin man sich wenden kann. Diese Ressource werde in der Schweiz bisher jedoch noch wenig genutzt. Was allerdings hilfreich wäre, um insbesondere Fehlbehandlungen zu vermeiden.

Konkret würden bei der Information von Patienten die folgenden Fragen oft vernachlässigt: Was passiert vor oder nach einem Eingriff? Wie komme ich mit den Nachwirkungen klar? Anhand dieses kleinen Beispiels zeige sich laut Gemdanke, wie wichtig eine koordinierte integrierte Versorgung sei. Die grösste Herausforderung bestehe in der Frage, wie man die Bedürfnisse der Patienten aufnehmen und gleichzeitig die Kosten im Rahmen halten kann. Dafür müsse man die Menschen in die Verantwortung nehmen und gut informieren.

Ambulant und stationär miteinander denken

In der abschliessenden Diskussion unterstrichen die Referierenden nochmals die wichtigsten Erkenntnisse. Dazu gehört, dass «Ambulant vor Stationär» ein guter Weg ist, der in vielen Fällen die Kosten tief hält und dem Bedürfnis der Patientinnen und Patienten entspricht. Andererseits gibt es und wird es auch in Zukunft immer Situationen geben, in denen ein stationäres Setting die bessere Lösung ist. Was in allen Voten hervorgehoben wurde, ist, dass eine ambulante Pflege ohne entsprechende Betreuung kaum möglich ist. Es braucht daher noch weitere Anstrengungen, um die verschiedenen Angebote zu einer integrierten Versorgung zu vernetzen.

Selbstverständlich war in der Podiumsdiskussion auch der jüngst gefällte Volksentscheid zugunsten der Einheitlichen Finanzierung ambulant und stationär (Efas) ein Thema. Dank Efas ist künftig der Verteilschlüssel der Kosten zwischen Kantonen und Krankenversicherern gleich, egal ob die Behandlung ambulant oder stationär erfolgt. Da der medizinische Entscheid über die Behandlungsform künftig nicht mehr davon abhänge, wer bezahlt, wurde Efas von allen Fachleuten auf dem Panel einhellig begrüsst.

Aufgezeichnet am Luzerner Kongress Gesellschaftspolitik vom 27. November 2024.

Take Aways

  • Ambulante Behandlungen und Pflege zuhause nehmen zu und werden auch in Zukunft relevant sein.
  • Ambulant ist häufig kostengünstiger als stationär, bisher haben vor allem die Kantone von der Verlagerung profitiert. Dank Efas sollen in künftig auch die Prämienzahler sparen.
  • Die nicht medizinische Betreuung ist entscheidend, damit ambulante Settings funktionieren können.
  • Wird der Pflegebedarf zu hoch oder besteht keine Betreuung, sind stationäre Aufenthalte die bessere Wahl.

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