Die digitale Transformation der 1. Säule beginnt im Kopf

Donnerstag, 03. Juni 2021 - Nancy Wayland
Damit der digitale Wandel funktioniert, ist mehr nötig als das Einführen technologischer Lösungen. Er bedingt einen «Digital Mindset» aller Beteiligten. Die öffentlich-rechtlichen Unternehmen, die mit der Durchführung der 1. Säule beauftragt sind, müssen Antworten darauf finden, was es braucht, um die Sozialversicherungen der 1. Säule zukunftsfähig zu machen.

Die 1. Säule [1] als fundamentaler Pfeiler der sozialen Sicherheit in der Schweiz hinkt den heutigen technologischen Möglichkeiten Jahrzehnte hinterher. Die Pandemie hat uns dies so deutlich vor Augen geführt, dass ein Wegsehen spätestens jetzt nicht mehr möglich ist. Leidtragende dieses technologischen Rückstands sind nicht nur die betroffenen Wirtschaftsbereiche, sondern auch unsere Mitarbeitenden. Das Fehlen von Kundenportalen, in denen neue Abklärungsprozesse rasch integriert, digital angestossen und automatisiert abgewickelt werden können, hat beide Seiten mit grundsätzlich vermeidbarem enormem administrativem Aufwand konfrontiert, die wirkungsvolle Unterstützung der Betroffenen verkompliziert sowie hohe zusätzliche Kosten verursacht. Wer dies nicht einfach schulterzuckend akzeptieren will, erkennt, dass die fundamentale digitale Transformation der ganzen Branche unumgänglich ist und drängt.

Digital Mindset entwickeln – mit dem Menschen im Zentrum

Es gilt, einen gemeinsamen Digital Mindset zu entwickeln, der die dringend notwendige digitale Transformation leitet. Zentrale Elemente dieses Digital Mindsets sind die konsequente Fokussierung auf die Kundenbedürfnisse und das Miteinbeziehen aller Anspruchsgruppen. Dies bedeutet, offen zu sein für interne und externe Anregungen und bereit zu sein, etablierte Ansätze über Bord zu werfen, wenn diese nicht die gewünschte Wirkung erzielen. Diese andere Art des Herangehens eröffnet für alle Beteiligten neue Perspektiven, schafft Verständnis und bereitet Freude. Gleichzeitig eignen sich unsere Mitarbeitenden neue, zukunftsfähige Kompetenzen an.

Neues wagen – aus Fehlern lernen

Wer im Bereich der sozialen Sicherheit tätig ist, weiss, wie gross das Bedürfnis aller Involvierten ist, dass diese Sicherheit zu jeder Zeit voll funktionsfähig ist. Es geht um Finanzflüsse in Milliardenhöhe, die verlässlich und korrekt zu steuern sind. Gleichzeitig sind wir so eng ins soziale Gewebe der Schweiz eingebunden, dass bereits eine kleine technische Störung im Kontext eines Systemupdats oder eine für kurze Zeit eingefrorene Website eine sehr hohe Zahl von Kunden betrifft und zu Verunsicherung führen kann.

Vor diesem Hintergrund ist es besonders anspruchsvoll, Neues auszuprobieren und einen Kulturwandel voranzutreiben, der den offenen Umgang mit Fehlern unterstützt. Der Anspruch, fehlerlos zu sein, ist tief in uns alle eingebrannt und bedeutet im Endeffekt, dass es besser ist, nichts zu tun. Nichtstun verhindert aber die Realisierung dringend benötigter digitaler Lösungen. Es führt also nichts an der Auseinandersetzung vorbei, welche Fehler wir uns erlauben können bzw. müssen, und wie wir damit umgehen, wenn ein Fehler passiert ist.

Transparenz schaffen – Vertrauen stärken

Die 1. Säule nimmt jährlich Milliarden Franken aus den Beitragszahlungen von Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden ein, hinzu kommen zusätzliche Steuermilliarden von Bund und Kantonen. Kaum jemand weiss jedoch, was in den Durchführungsstellen – SVA, Ausgleichskassen, Familienausgleichskassen, EL-Stellen etc. – mit diesen enormen Summen gemacht wird. Die Rechenschaftspflicht ist bescheiden, Reserven müssen nicht zwingend ausgewiesen werden, die Kosten – z. B. für einen IV-Entscheid – sind nicht bekannt. Branchenspezifische Kennwerte, die es erlauben würden, Best Practices zu erkennen und voneinander zu lernen, fehlen.

All das ist für die Vertrauensbildung hinderlich und hat Auswirkungen auf die digitale Transformation: Wenn wir unsere Anspruchsgruppen davon überzeugen wollen, uns ihre Daten auch auf digitalen Kanälen zur Verfügung zu stellen, ist Vertrauen die Währung. Wenn wir aber nichts über uns preisgeben wollen, wie wollen wir unsere Anspruchsgruppen überzeugen, dass ihre sensiblen Daten bei uns in guten Händen sind?

Technologische Neuerungen – gesamtheitlicher Blick

Der Digital Mindset ist ein unverzichtbares Element erfolgreicher Digitalisierungsstrategien. Dennoch geht es nicht ohne den klugen Einsatz von Technologien und ohne entsprechende Investitionen. Sei es in maschinelles Lernen, KI, Chatbots, RPA Lösungen oder Big Data & Analytics. Die richtige Mischung intelligenter Technologien gehört zwingend zur Transformation dazu. Die konsequente Orientierung an den Kundenbedürfnissen ist dabei ein wirkungsvolles Prinzip, das verhindert, das neue Technologien in alte Silos gesperrt werden: Für eine Versicherte ist mit dem IV-Entscheid der Prozess noch längst nicht zu Ende. Erst wenn die zuständige Ausgleichskasse die Rente berechnet und ausbezahlt hat und – gegebenenfalls – die EL-Stelle ihre Leistung erbringt, ist aus Sicht der Betroffenen der Prozess der Existenzsicherung abgeschlossen. Es macht also Sinn, wenn Mitarbeitende aus den entsprechenden Aufgabenbereichen, unterstützt durch intelligente Systeme, zusammenarbeiten. Der Einsatz dieser Technologien kann bei den Mitarbeitenden Ängste auslösen. Auch hier helfen Transparenz und das gemeinsame Entwickeln von Lösungen. Mitarbeitende können so erkennen, dass die Automatisierung sie in administrativen Aufgaben entlastet. Die Zeit, die sie dadurch gewinnen, können sie für spannendere Aufgaben nützen, bei denen ihre menschlichen Kompetenzen wie Kreativität und Empathie benötigt werden.

Die 1. Säule – kein Sonderfall

Unsere Kunden verkehren mit ihrer Krankenversicherung, ihrer Haushaltversicherung oder ihrer Bank längst über multiple digitale Kanäle, stossen via App auf ihrem Smartphone Prozesse in einem entsprechenden Portal an und erhalten auch am Sonntag von intelligenten Chatbots Antworten auf ihre Fragen. Genau dieselben Erwartungen richten sie – zu Recht – an die Dienstleistungen ihrer Sozialversicherung. Die digitale Transformation der 1. Säule ist kein «nice to have», sondern ein «must». Das digitale Zeitalter ist da. Sich ihm zu verschliessen ist keine Option. Wird der digitale Wandel angenommen und die nötige Transformation prinzipienbasiert, mit Zuversicht und Entschlossenheit in Angriff genommen, stellen wir sicher, dass die 1. Säule für heutige und zukünftige Generationen ein zentraler Pfeiler bleibt.

[1] Die individuelle Prämienverbilligung, die Familienzulagen, der Vaterschaftsurlaub sowie die Überbrückungsleistung für ältere Arbeitslose fügen sich nahtlos in die Grundstossrichtung der 1. Säule mit den Teilbereichen AHV, IV und EL sowie Erwerbsersatz ein und werden im vorliegenden Artikel deswegen als Teil der 1. Säule verstanden. Alle diese Leistungen sind als Sozialversicherungen bzw. -werke ausgestaltet und haben zum Ziel, finanzielle Einbussen aus der Realisierung sozialer Risiken aufzufangen und die Existenz der Versicherten zu sichern.

Take-Aways

  • Sozialversicherungen können sich der Entwicklung der Digitalisierung ebenso wenig verschliessen wie Unternehmen. Dabei ist
    Digitalisierung mehr als das Einrichten von IT-Systemen.
  • Digitalisierung heisst, bestehende Prozesse zu überdenken und mit Blick auf die Kundenbedürfnisse neu zu organisieren. Dabei braucht es den Mut, Fehler zu machen und
    aus ihnen zu lernen.
  • Dabei gilt es, sich an den Bedürfnissen der Kunden (Arbeitgebende und versicherte Personen) zu orientieren.

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