Für Personen, die nicht im selben Land wohnen und arbeiten, stellt sich die Frage nach der sozialversicherungsrechtlichen Unterstellung. Wo sind sie beitragspflichtig und wo zum Bezug der Leistungen berechtigt? Ausgeklammert werden in diesem Beitrag die steuerrechtlichen (siehe Artikel Prins/Sonderegger) und gegebenenfalls betriebswirtschaftlichen Aspekte.
EU- oder CH-Bürgerinnen und -Bürger
Für die Beurteilung matchentscheidend ist die Nationalität der Grenzgängerin oder des Grenzgängers: Hat diese Person das Schweizerbürgerrecht oder jenes eines der 27 EU-Mitgliedsstaaten? Wenn ja, ist das Abkommen über Personenfreizügigkeit (FZA) zur Beurteilung der Unterstellung herbeizuziehen. Analoge Bestimmungen finden sich im EFTA-Übereinkommen (betreffend Schweiz, Liechtenstein, Norwegen und Island).
Das FZA sieht vor, dass Grenzgänger zur gleichen Zeit nur in einem Mitgliedsstaat (CH oder EU-27) den obligatorischen Sozialversicherungen unterstellt sind. Primär gilt das Erwerbsortsprinzip. Das bedeutet, dass Erwerbstätige in dem Land den obligatorischen Sozialversicherungen unterstellt werden, wo sie arbeiten.
Doch was gilt, wenn Erwerbstätige auch im Wohnsitzstaat eine Erwerbstätigkeit ausüben? Hier besagt das FZA, dass die Unterstellung in den Wohnsitzstaat wechselt, sobald dort eine wesentliche Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Wesentlich ist ab einem Viertel der gesamten Arbeitszeit. Es ist die übliche Gesamtstundenzahl zu ermitteln und dann zu bestimmen, ob im Wohnsitzstaat ein Viertel oder mehr davon geleistet wird. Im Fall von Homeoffice sind Bestrebungen im Gange, für Vollzeiterwerbstätige Homeoffice bis zu 40% des gesamten Pensums zuzulassen.
Vereinsarbeit und ähnliche Tätigkeiten im Wohnsitzstaat beeinflussen die Unterstellung nicht, solange sie insgesamt 5% der gesamten Erwerbsdauer nicht übersteigen (marginale Tätigkeiten).
Für Arbeitslose, Beamte und Fliegende gelten besondere Regelungen
Grenzgängerinnen, die arbeitslos werden, sind für die Dauer der Arbeitslosigkeit ausnahmslos im Wohnsitzstaat den Sozialversicherungen unterstellt. Sie beziehen auch dort das Arbeitslosengeld, können aber (auch) im vormaligen Beschäftigungsland nach Arbeit suchen (siehe dazu Artikel Schärli und Kaeser). Beamte – bei uns leitende Mitarbeitende des öffentlichen Diensts – sind in dem Mitgliedsstaat unterstellt, dem die Verwaltungseinheit angehört, die sie beschäftigt. Wer beruflich in die Luft geht (Flug- und Kabinenbesatzungsmitglieder im Einsatz für Fluggäste oder Flugfracht), ist der Heimbasis verpflichtet.
Beitragsabrechnung mit ausländischen Sozialversicherungen
Schweizer Arbeitgebende müssen für ihre Grenzgänger mit erheblicher Tätigkeit im Wohnsitzstaat (ab einem Viertel der gesamten Arbeitszeit) mit den Sozialversicherungen im betreffenden Wohnsitzstaat nach dessen Beitragssätzen und Vorschriften abrechnen. Laut Grenzgängerstatistik (1. Quartal 2023) kommen 217803 Personen aus Frankreich, 91504 aus Italien und 64706 aus Deutschland in die Schweiz arbeiten. Aus Österreich sind es nur 8776 und aus Liechtenstein 655 Personen.
Für die Beitragsabrechnung stehen zwei Wege offen: Grundsätzlich hat in diesen Fällen der Arbeitgeber im Beschäftigungsland die Arbeitnehmerbeiträge nach ausländischem Recht vom Lohn in Abzug zu bringen und mit dem zuständigen Versicherungsträger im Wohnsitzstaat der Grenzgängerin direkt abzurechnen. Grössere Firmen haben für die ganzen Belange von im Ausland wohnhaften Mitarbeitenden und für solche, die von der Schweiz aus im Ausland eingesetzt werden (Entsendung), eigenes Fachpersonal. Leider bestehen keine Broschüren, wie in den anderen Mitgliedsstaaten abgerechnet wird. Deshalb wird kleineren Unternehmen geraten, dafür die Dienstleistungen eines qualifizierten Treuhandbüros in Anspruch zu nehmen.
Der Arbeitgeber im Beschäftigungsland kann aber auch mit der Arbeitskraft vereinbaren, dass sie selbst die Beiträge in ihrem Wohnsitzstaat abrechnet und er der Arbeitskraft die Arbeitgeberbeiträge vergütet.
Zu beachten ist:
- In der Schweiz ist es die AHV-Ausgleichskasse, die für alle (schweizerischen) Sozialversicherungen bestimmt, wer zu unserem Sozialversicherungssystem gehört und wer zu dem welchen anderen Landes.
- Die Unterstellung unter die «Rentenversicherung» (CH = AHV/IV) bedingt auch die Unterstellung unter die Arbeitslosen-, Kranken- und Unfallversicherung, die Familienzulagen und seitens der Schweiz die obligatorische berufliche Vorsorge (BVG) sowie die EO (Erwerbsersatz).
- Für in der Schweiz versicherte Personen gehen Freizeitunfälle zulasten der Unfallversicherung (NBU). Im Ausland, wo eine Krankentaggeldversicherung Pflicht ist, gehen Freizeitunfälle zulasten der Krankenversicherung.
- Abgesehen von der Schweiz wird die Krankenversicherung lohnprozentual finanziert. Für Grenzgänger in die Schweiz, die den Sozialversicherungen im Wohnsitzstaat unterstehen, hat der Arbeitgeber die entsprechenden Beiträge zu übernehmen.
- Grenzgängerinnen mit Wohnsitz in Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich, die in der Schweiz erwerbstätig sind, haben ein «Optionsrecht». Das bedeutet, dass sie mit Aufnahme der Tätigkeit in der Schweiz wählen können, ob sie im Wohnsitzstaat oder in der Schweiz krankenversichert sein wollen. Dazu müssen die Leistungen im Wohnsitzstaat zu denen in der Schweiz gleichwertig sein. Grenzgänger aus allen anderen EU/EFTA-Mitgliedsstaaten müssen sich in der Schweiz krankenversichern; sie haben kein Wahlrecht. Vgl. kvg.org, Privatpersonen, Versicherungspflicht, Informationen zur Versicherungspflicht, «Befreiung von der Krankenversicherungspflicht auf Basis des Freizügigkeitsabkommens – Optionsrecht für Grenzgänger».
- Ist eine Person fälschlicherweise in der Schweiz unterstellt, obwohl sie in einem EU- oder EFTA-Mitgliedsstaat unterstellt sein sollte, meldet dies die Ausgleichskasse der zuständigen ausländischen Stelle. Sie schlägt vor, auf eine rückwirkende Unterstellung zu verzichten und die Bescheinigung A1 nur mit Wirkung für die Zukunft auszustellen. Im Missbrauchsfall muss mit der ausländischen Stelle eine Rückabwicklung erfolgen. Diese ist je nach Mitgliedsstaat mit erheblichen Kosten verbunden.
- In der Pensionskasse können nur AHV-pflichtige Grenzgänger versichert werden.
Vorgehen
Der ausländische Versicherungsträger im Wohnsitzstaat bestätigt die Unterstellung des Grenzgängers bzw. der Grenzgängerin mit dem Formular A1. Diese Bestätigung nimmt der Arbeitgeber im Beschäftigungsland zu seinen Akten bzw. leitet sie dem für ihn zuständigen Sozialversicherer weiter. Zusätzlich wird das Formular Vereinbarung nach Art. 21 Abs. 2 der VO 987/09 ausgefüllt, womit bestätigt wird, dass die Arbeitskraft im Wohnsitzstaat selbst für die im Beschäftigungsland erzielten Erwerbseinkommen abrechnet und der Arbeitgeber ihr seinen Beitragsanteil rückvergütet. Vorsicht: Der Arbeitgeber haftet voll, wenn die Mitarbeitende im Wohnsitzstaat nicht korrekt abrechnet!
Falsche Nationalität
Das FZA gilt nur für Personen mit Schweizerbürgerrecht oder dem eines der 27 EU-Mitgliedsstaaten. Für Drittstaatsangehörige (z.B. eine Marokkanerin) sind die Bestimmungen des Länderabkommens zwischen dem Wohnsitzstaat und dem Beschäftigungsland massgebend. Unter den erwähnten Nachbarländern machen einzig Deutschland und Liechtenstein keine Einschränkungen in Bezug auf die Nationalität der Grenzgänger. Die Abkommen mit Frankreich, Italien und Österreich hingegen gelten ausschliesslich für die Angehörigen der beiden Nationalitäten (CHF, CHI, CHA). Hier kann es für Drittstaatsangehörige zu Doppelunterstellungen und Doppelbelastungen kommen.
Leistungsbezug
Mit Erreichen des ordentlichen Renteneintrittsalters erhalten Personen, die in mehreren Staaten Versicherungs-/Beitragszeiten zurückgelegt haben, von jedem Staat eine Teilrente. Der Anspruch muss entsprechend mit der ersten Rentenanmeldung geltend gemacht werden (siehe Artikel Ciattini/Aziz).
Take Aways
- In der Schweiz bestimmt die AHV-Ausgleichskasse für alle (schweizerischen) Sozialversicherungen, wer zu unserem Sozialversicherungssystem gehört und wer zu dem eines anderen Landes.
- Grenzgänger mit Schweizerbürgerrecht oder dem eines der 27 EU-Mitgliedsstaaten sind gleichzeitig nur in einem Land den Sozialversicherungen unterstellt. Im Alter erhalten sie Renten aus zwei oder mehreren Staaten.
- Wenn Grenzgängerinnen im Wohnsitzstaat einen Viertel oder mehr der gesamten Arbeitszeit leisten, müssen die Arbeitgeber aus dem Beschäftigungsland mit den Sozialversicherungen im entsprechenden Wohnsitzstaat (nach dessen Regelungen) abrechnen.