Kolumne: Fokus auf die kleinen oder die grossen Probleme?

Samstag, 09. September 2023 - Andreas Dummermuth
«Probleme, die sehr wenige ­Menschen betreffen, sollen neu durch die Sozialversicherungen abgefedert werden.» Diese Entwicklung gefällt Andreas Dummermuth nicht. Warum, erklärt er in seiner Kolumne.

«Vor Pest, Hunger und Krieg bewahre uns, oh Herr» – mit diesem Ruf beteten die Menschen jahrhundertelang um göttlichen Beistand gegen die drei grossen Geisseln ihrer Zeit. Immense Bedrohung, schreckliches Leid und existenzielle Gefahr waren an der Tagesordnung. Keine Zeit für kleine Sorgen.

Die grossen Sorgen der Schweizerinnen und Schweizer im Jahr 2023 sind etwas konkreter als die apokalyptischen Reiter: die Krankenkassenprämien, der Klimawandel, der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und die Altersvorsorge. Diese Megaprobleme sind gross, komplex und haben einen weitreichenden Einfluss auf das Leben aller Bürgerinnen und Bürger.

Alexis de Tocqueville (1805-1850) gilt als Vater der vergleichenden Politikwissenschaft. Er «erfand» das Paradoxon, «dass mit dem Abbau grösserer sozialer Ungerechtigkeiten gleichzeitig die Sensibilität für die verbleibenden kleineren Ungleichheiten wächst».

Wenn wir in die schweizerische Sozialpolitik abtauchen, dann erkennen wir die gleiche Tendenz, die das Tocqueville-Paradoxon charakterisiert: Probleme, die sehr wenige Menschen betreffen, sollen neu durch die Sozialversicherungen abgefedert werden. Sehr wenige Personen meint hier: weniger als ein Promille der Bevölkerung. Ein Promille ist betroffen und 99.9% eben nicht. Aktuelle Beispiele dafür gibt es zuhauf. Die Bundespolitik hat mit den Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose eine neue und elfte Sozialversicherung für kein Promille der Bevölkerung geschaffen. Die ebenfalls neue Adoptionsentschädigung für wenige Dutzend Fälle pro Jahr, sodann eine neue Mutterschaftsentschädigung für überlebende Väter und in Zukunft sollen auch noch spezielle Taggelder für jährlich rund 1300 Mehrlingsgeburten fliessen.

Der Gesetzgeber ist offensichtlich sensibilisiert auf die kleinen Regelungsdefizite im Sozialversicherungsrecht. Es bleibt zu hoffen, dass er in Bälde mit derselben Messerschärfe auch die grossen Probleme anpackt.

Alexis de Tocqueville und Mark Twain haben zur gleichen Zeit in Amerika gelebt, sind sich wahrscheinlich aber nie persönlich begegnet. Twains Sprichwort, «Als sie das Ziel aus den Augen verloren hatten, verdoppelten sie ihre Anstrengungen», hätte Tocqueville sicherlich zum Schmunzeln gebracht.

Wir müssen – eben gemäss dem Tocqueville-Paradoxon – in der nächsten Legislaturperiode eine Fortsetzung dieser Tendenz befürchten: Politische Vorstösse, die auf die Bewältigung kleinerer Probleme abzielen, anstatt sich auf die Lösung der grösseren Herausforderungen zu konzentrieren. Mit Twain ist auch gesichert, dass niemand wagt, «Halt!» zu rufen. Tocqueville und Twain tun sich zusammen. Ist das zum Wohl von Land und Volk?

Artikel teilen


Jederzeit top informiert!

Erhalten Sie alle News-Highlights direkt per Browser-Push und bleiben Sie immer auf dem Laufenden.

Folgen sie uns auf