Der Bundesrat hat am 8. Dezember 2023 die Gesetzesänderung für den Anspruch auf Witwen- und Witwerrenten zur Vernehmlassung freigegeben. Ziel der Änderung ist es, die vom EGMR festgestellte Ungleichbehandlung von Witwen und Witwer zu beseitigen. Gleichzeitig schlägt der Bundesrat eine Anpassung an die gesellschaftliche Entwicklung vor. Spannend sind vor allem die Erläuterungen für eine Anpassung der Anspruchsberechtigung an die gesellschaftlichen Entwicklungen:
Bisher, das heisst aktuell, basiert der Anspruch auf Witwen- und Witwerrenten auf dem Zivilstand «verheiratet» (Ausnahme: geschiedene Witwen). Ob Kinder vorhanden sind, ist bei Witwen ab vollendetem 45. Altersjahr, ohne Belang, sofern sie aus einer oder mehreren Ehen mindestens fünf Jahre verheiratet waren. Für geschiedene Witwen gelten spezielle Regelungen.
Teilweise Ablösung des Zivilstands «verheiratet» bei der AHV
Neu möchte der Bundesrat den Anspruch mit der aktiven Erwerbstätigkeit der Frauen und den neuen Formen der Familienstrukturen verbinden. Auch wenn weiterhin viele Haushalte mit unterhaltsberechtigten Kinder aus verheirateten Paaren bestehen, umfassen sie heute auch Patchworkfamilien, Konsensualpartnerschaften oder getrennt lebende unverheiratete Paare. Die Hinterlassenenleistungen sollen unabhängig vom Zivilstand entstehen. Bei einem Todesfall soll der Anspruch allen Personen zukommen, die für unterhaltsberechtigte Kinder aufkommen müssen, unabhängig davon, ob sie verheiratet oder geschieden sind, im Konkubinat oder getrennt leben. Massgebend wird das Kindsverhältnis und nicht mehr der Zivilstand der Eltern.
Mit dieser vorgeschlagenen Änderung für den Anspruch auf Witwen- und Witwerrenten wird in der AHV erstmals der Zivilstand als anspruchsbegründetes Merkmal beendet. Ausnahmen: Übergangsrenten sowie Witwen und Witwer, die das 58. Altersjahr vollendet haben, denen eine Altersarmut droht. Ist dies der erste Schritt weg von der Heiratsstrafe? Falls dem so wäre, könnte mit der Beitragspflicht von verheirateten Paaren und bei der Plafonierung der Renten eines Ehepaares fortgefahren werden.
Wie sehen nun die vorgeschlagene Änderungen beim Anspruch auf Witwen- und Witwerrenten aus?
Hinterlassener Elternteil mit unterhaltsberechtigten Kindern
Der hinterlassene Elternteil hat Anspruch auf eine Witwen- oder Witwerrente, solange sie unterhaltsberechtigte Kinder haben. Das heisst bis das jüngste Kind das 25. Altersjahr vollendet hat, respektive lebenslang, wenn das erwachsene Kind mit Behinderung betreut wird (Anspruch auf Betreuungsgutschriften).
Witwen und Witwer ohne unterhaltsberechtigte Kinder
Neu wird bei Verwitwung während zwei Jahren eine Übergangsrente zur Unterstützung der Hinterbliebenen ohne unterhaltsberechtigte Kinder gewährt. Das gilt für verheiratete Paare und für geschiedene Personen, die von der verstorbenen Person Unterhaltsbeiträge erhielt.
Witwen und Witwer nach vollendetem 58. Altersjahr, die keine unterhaltsberechtigten Kinder mehr haben und denen Altersarmut droht
Witwen und Witwer, die das 58. Altersjahr vollendet haben und keine unterhaltspflichtigen Kinder mehr haben, sollen im Rahmen der Ergänzungsleistungen zur AHV finanzielle Unterstützungen erhalten, falls Altersarmut droht.
Übergangsbestimmungen für Witwen und Witwer, die bei Inkrafttreten das 55. Altersjahr vollendet und keine unterhaltspflichtigen Kinder mehr haben
Der bisherige Anspruch von Witwen und Witwern, die bei Inkrafttreten das 55. Altersjahr vollendet und keine unterhaltspflichtigen Kinder mehr haben, bleibt bestehen. Für Witwen und Witwer unter 55 Jahren wird der Rentenanspruch innerhalb von zwei Jahren aufgehoben.
Witwen und Witwer, die bei Inkrafttreten das 50. Altersjahr vollendet haben und Ergänzungsleistungen beziehen
Witwen und Witwer, die bei Inkrafttreten das 50. Altersjahr vollendet haben und Ergänzungsleistungen der AHV und IV beziehen, behalten ihren Anspruch.
Die vorgeschlagenen Änderungen sind ein erster Schritt. Was ist weiter zur beachten und wäre noch zu tun?
Arbeitslosenversicherung
Mit der Einführung des Anspruchs des hinterlassenen Elternteils wird der Kreis der anspruchsberechtigten Personen bei der AHV ausgeweitet. Dies betrifft aber auch den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung, wenn der Anspruch auf die Hinterlassenenrente der AHV von bisher nicht verheirateten Personen wegfällt (Anspruch als beitragsbefreite Person).
Anpassung der Anspruchsbedingungen beim BVG und dem UVG
Bei der Unfallversicherung gilt weiterhin der Anspruch des überlebenden Ehegatten. Lediglich für Witwer sollen die Anspruchsbedingungen an diejenigen der Witwen angepasst werden. Gleiche Anspruchsvoraussetzungen wie bei der AHV werden nicht ins Auge gefasst.
Bei der obligatorischen beruflichen Vorsorge kann (bisher schon) im Reglement der Pensionskasse auch ein Anspruch vorgesehen werden für KonkubinatspartnerInnen, für Personen, die für den Unterhalt eines gemeinsamen Kindes aufkommen, oder für Personen, die von der verstorbenen Person unterstützt wurden. Diese Bestimmungen weichen weiterhin von den neu vorgeschlagenen Regelungen im AHVG ab. Eine einheitliche Lösung sieht anders aus.
Beim BVG und beim UVG bleiben die Koordinationsaufgaben bestehen. Die anspruchsberechtigten Personen werden in der AHV, im BVG und im UVG weiterhin unterschiedlich behandelt. Hinzu kommen nun die neuen Anspruchsbedingungen für nicht verheiratete Eltern bei der AHV.
Zivilstandsunabhängige Beiträge und Leistungen bei der AHV
Bei der AHV kann die Beitragspflicht des nicht erwerbstägigen Ehepartners ganz oder teilweise durch den erwerbstätigen Ehepartner erfüllt werden. Diese Bestimmung greift nicht bei Konkubinatspaaren, hingegen bei getrennt lebenden Ehepaaren. Die beiden Einzelrenten eines Ehepaares werden plafoniert, wenn die Summe der beiden Einzelrenten höher ist als 150 Prozent der Maximalrente der massgebenden Rentenskala. Die sogenannte Heiratsstrafe greift bei der AHV weiterhin.
Fazit
Die durch das Urteil des EGMR notwendige Anpassung der Anspruchsvoraussetzungen für Hinterlassene bei der AHV mit einer Verknüpfung an das Kindsverhältnis ist ein spannender Ansatz, der den neuen Familienstrukturen eher gerecht wird als die bisherigen Bestimmungen. Es ist aber erst ein erster Schritt in Richtung zivilstandsunabhängigem Leistungsanspruch. Mangelhaft ist weiterhin die Koordination mit dem BVG und dem UVG, ganz zu schweigen von den Auswirkungen der Heiratsstrafe bei der AHV.