Wie läuft es mit der Weiterentwicklung der IV?

Freitag, 02. Dezember 2022 - Thomas Pfiffner
Die Weiterentwicklung der IV trat am 1. Januar 2022 in Kraft. Kaum ein Prozess der IV-Stellen war nicht tangiert von dieser umfangreichen Revision. Wo stehen die IV-Stellen heute mit deren Umsetzung?

Quantitative Daten zu den Auswirkungen der Weiterentwicklung IV (WEIV) liegen zehn Monate nach deren Inkraftsetzung noch keine vor. Erste Evaluationen, beispielsweise in Form der gesamtschweizerischen Auditberichte des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV), sind frühestens Mitte 2023 zu erwarten. Die Ergebnisse des geplanten übergeordneten Evaluationsprozesses des BSV zur WEIV werden später vorliegen. Entsprechend basieren nachfolgende Aussagen nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen oder statistischen Daten, sondern sind als Erfahrungsbericht und Einschätzung eines IV_Stellen-Leiters zu verstehen.

Zusammenarbeit zwischen BSV und IVSK

Insgesamt ist es den IV-Stellen sehr gut gelungen, die WEIV umzusetzen. Ein wichtiger Erfolgsfaktor war dabei die enge und konstruktive Zusammenarbeit zwischen dem BSV und der IV-Stellen-Konferenz (IVSK) bei der Vorbereitung auf den 1. Januar 2022. Die Entwicklungsarbeit war wertvoll und hat den IV-Stellen die Gelegenheit geboten, sich fundiert vorzubereiten und in den Gestaltungsprozess einzubringen. Das BSV hat dabei die Praxissicht der IV-Stellen aufgenommen und bei der Ausgestaltung der Weisungen  (Kreisschreiben) berücksichtigt, soweit dies die rechtlichen Rahmenbedingungen zuliessen. So war es mehr auf der formellen und weniger auf der inhaltlichen Ebene etwas irritierend, dass die Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV) erst knapp zwei Monate vor deren Inkraftsetzung vom Bundesrat verabschiedet wurde.

Kinder mit Geburtsgebrechen

Für Kinder und Jugendliche mit anerkannten Geburtsgebrechen, deren medizinische Behandlung von der IV finanziert wird, wurden mit der WEIV neue Begleitungsangebote  eingeführt. Insbesondere bei komplexen gesundheitlichen Einschränkungen können Kinder und ihre Familien eine engere Begleitung im Sinne eines Case Managements durch die IV-Stelle nutzen. Das BSV hat Kriterien definiert, in welchen Fällen durch die IV-Stelle eine intensivere Unterstützung erfolgen kann. Erste Erfahrungen zeigen, dass diese Beratungsleistungen bisher in sehr geringem Mass beansprucht werden. Im Moment ist noch offen, ob dies an den vom BSV definierten Kriterien liegt, ob viele anspruchsberechtigte
Familien das Angebot nicht nutzen wollen, weil sie eine neutrale Beratungsstelle bevorzugen, oder ob es andere Gründe sind, die zu dieser tiefen Nachfrage im Bereich der medizinischen Massnahmen führen.

Problemlos umzusetzen war für die IV-Stellen die Änderung, dass junge Menschen in einer beruflichen Eingliederung fünf Jahre länger als bisher, nämlich neu bis zum 25. Altersjahr, Anspruch auf medizinische Eingliederungsmassnahmen haben.

Jugendliche am Übergang ins Erwerbsleben

Für Bundesrat und Parlament war es mit der WEIV wichtig, dass junge Menschen nicht als Rentnerinnen oder Rentner ins Erwachsenenleben starten. Eine Rente soll daher erst zugesprochen werden, wenn alle Massnahmen zur Eingliederung ausgeschöpft sind. Entsprechend brachte die WEIV in diesem Bereich die meisten Veränderungen für die IV-Stellen. Es wurden Instrumente ausgebaut, die Jugendlichen mit psychischen oder anderen Beeinträchtigungen beim Übergang von der Volksschule zur erstmaligen beruflichen Ausbildung helfen.

Die bei Erwachsenen bewährten Instrumente der Früherfassung und der sozialberuflichen Integrationsmassnahmen kommen nun auch Jugendlichen zugute. Mit vorbereitenden Massnahmen während der Berufsberatung können die Jugendlichen bei den allgemeinen Anforderungen einer beruflichen Grundbildung unterstützt werden, während die spezifische Vorbereitung sie für den Beginn einer konkreten Ausbildung fit macht.

Die IV-Stellen können zudem vorgelagerte kantonale Angebote zur Eingliederung Jugendlicher, insbesondere zur Vorbereitung auf die erstmalige Berufsausbildung und das  kantonale Case Management subsidiär mitfinanzieren. Für die Entwicklung der dafür notwendigen Kooperationen zwischen IV-Stellen und Berufsbildungsämtern haben die beiden Verbände IVSK und die Schweizerische Berufsbildungsämter-Konferenz (SBBK) einen entsprechenden Leitfaden erstellt. In diesem gesamten Themenblock beim Übergang ins Erwerbsleben zeigt sich die Situation in den verschiedenen Kantonen sehr unterschiedlich, da die IV-Stellen auf die Zusammenarbeit mit den kantonalen Berufsbildungsämtern und mit der Volksschule angewiesen sind.

Taggeld bei ebA – gut gemeint, aber …

Neu erhalten die Lernenden in einer erstmaligen beruflichen Ausbildung (ebA) statt eines Taggelds der IV einen Lehrlingslohn von den Lehrbetrieben, der jenem von anderen Lernenden entspricht. Während die Angleichung des IV-Taggelds an die realen Lehrlingslöhne durchwegs positiv bewertet wird, zeigt sich die neue Regelung in der Praxis als administrativ sehr aufwendig. Dies nicht nur für die IV-Stellen, sondern auch für die Ausgleichskassen, die das Taggeld den Lehrbetrieben auszahlen müssen, und insbesondere für die Lehrbetriebe, die das Taggeld dann als Lehrlingslohn den Lernenden weiterleiten müssen. Der neue Auszahlungsmechanismus war im Sinne des Normalitätsprinzips sicherlich gut gemeint, aber der in der Praxis unverhältnismässig hohe zusätzliche administrative Aufwand für alle Beteiligten wurde unterschätzt.

Auch der Wegfall des Taggeldanspruchs in einzelnen Konstellationen hat verschiedentlich zu Unverständnis geführt. Dies lässt sich zwar begründen, muss aber in aller Regel als nicht
für die Eingliederung förderlich beurteilt werden. Die zwingende Verbindung zwischen behinderungsbedingten Mehrkosten und Taggeldauszahlung – dem Lehrbetrieb wird das Taggeld mehr oder weniger aufgezwungen – führt immer wieder zu Irritationen. Zusätzlich kommt erschwerend hinzu, dass die Übergangsregelung zwischen altem und neuem Recht zu grossen Ungleichheiten führt.

Stufenloses Rentensystem

Damit der Anreiz besteht, die Erwerbstätigkeit zu erhöhen, wurde per 1. Januar 2022 ein stufenloses System eingeführt. Im alten Rentensystem mit vier Stufen war es für viele IV-Rentnerinnen und -Rentner nicht attraktiv, mehr zu arbeiten, weil sich wegen Schwelleneffekten ihr verfügbares Einkommen nicht erhöhte.

Die Einführung des stufenlosen Rentensystems verlief grundsätzlich problemlos. Etwas komplizierter zeigte sich die Umsetzung der Übergangsbestimmungen. IV-Stellen, die früh mit der Bearbeitung gewisser Aufgaben im Bereich der Übergangsbestimmungen begonnen haben, darunter auch die IV-Stelle des Autors, mussten gewisse Arbeiten zweimal ausführen, weil die Anweisungen zuerst missverständlich formuliert waren. Nach weiteren, präzisierenden und klärenden Anweisungen des BSV konnten diese  Interpretationsspielräume aber aufgelöst und letztlich alle Aufträge korrekt abgewickelt werden. Für die IV-Stellen aufwendig ist und bleibt die Tatsache, dass über Jahrzehnte hinweg auch mit dem alten Rentensystem gearbeitet werden muss. Dies deshalb, weil für Renten, die vor 2022 entstanden, das alte Recht gilt, solange sie nicht ins stufenlose System überführt werden.

Neue Regeln im Gutachterwesen

Im Rahmen der WEIV wurden die Abklärungsmassnahmen und das Verfahren im Zusammenhang mit medizinischen Begutachtungen für alle Sozialversicherungen einheitlich geregelt. Ein Beispiel dazu sind die Interviews, die im Rahmen einer Begutachtung durchgeführt werden. Diese sind neu mittels Audioaufnahme zu dokumentieren. Hierfür war ein Kraftakt notwendig, damit die entsprechenden IT-Systeme Anfang 2022 zur Verfügung standen. Dies ist gelungen. Hinzu kamen weitere neue Regelungen im Gutachterwesen, die spezifisch für die IV vorgesehen sind, wie beispielsweise, dass die IV-Stellen eine öffentlich zugängliche Liste mit Angaben zu den von ihnen beauftragten Sachverständigen führen müssen. Diese neuen Regelungen haben insgesamt zu einer Reduktion der Anzahl der zur Verfügung stehenden Sachverständigen, zu einem erheblich höheren administrativen Aufwand in den IV-Stellen und vermutlich insgesamt zu einer Verzögerung des IV-Verfahrens geführt, was aber zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht mit Zahlen belegt oder widerlegt werden kann (siehe dazu den Kommentar von Andreas Dummermuth).

Take Aways

  • Die Weiterentwicklung der IV trat am 1. Januar 2022 in Kraft und brachte insbesondere Verbesserungen für Kinder, Jugendliche und Menschen mit psychischen Problemen.
  • Mit der Einführung des stufenlosen Rentensystems konnten Fehlanreize im IV-System behoben werden. Langfristige Übergangsbestimmungen werden hier zu Mehraufwand führen.
  • Bei den medizinischen Begutachtungen wurden Massnahmen für mehr Transparenz eingeführt.
  • Insgesamt haben die IV-Stellen die aufwendige Umsetzung gut gemeistert. Allerdings wurde der Mehraufwand für IV-Stellen, Ausgleichskassen und Unternehmen durch den Ersatz des Taggelds bei erstmaliger beruflicher Ausbildung durch einen Lehrlingslohn unterschätzt.

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