Die Karriere als Kurve

Donnerstag, 30. Mai 2024 - Gregor Gubser
Das Damoklesschwert des Fachkräftemangels hängt über der Wirtschaft. Dem kann mit gezielter Förderung von agiler Laufbahngestaltung in jedem Alter begegnet werden, berichtet Bernadette Höller aus ihrer Beratungs­tätigkeit rund um Arbeit 45+.
Bernadette Höller, wie nehmen Sie den weitherum beschworenen Fachkräftemangel wahr?

Bis zum Ende dieses Jahrzehnts gehen Jahr für Jahr geburtenstärkere Jahrgänge in Pension, als nachrücken. Das verschärft den Fach- und auch schlicht den Arbeitskräftemangel in vielen Branchen und Berufen. Zum Beispiel ist es schon heute fast nicht möglich, eine Köchin oder einen Koch oder Pflegekräfte zu finden. Auf der anderen Seite gibt es Berufe, in denen es mehr Arbeitskräfte als offene Stellen gibt, zum Beispiel gibt es keinen Mangel an «normalen Büroleuten» oder Personen, die im HR arbeiten wollen. Faktoren, die den Arbeitskräftemangel verstärken, sind, dass viele Unternehmen noch immer zu wenig in Weiter- und Umbildungen investieren, Quereinstiege zu schwer machen und die Weichen für Personen, die sich vorstellen können nach 65 weiterzuarbeiten, nicht rechtzeitig bzw. überhaupt nicht stellen.

Sie sehen also die Unternehmen in der Verantwortung?

Die öffentliche Hand tut ebenfalls zu wenig, um Umstiege auch und gerade für 45+ zu ermöglichen. Ist eine Person heute beim RAV, dann ist die Aufgabe der Beraterin dort, die Person möglichst schnell wieder in den gleichen Beruf zu bringen, den sie bisher ausgeübt hat. Egal, wie die Aussichten sind, und auch wenn die Person sich wünschen würde, in einen Beruf mit Fachkräftemangel zu wechseln. Also, sie kann schon umsteigen, aber unterstützt wird das eben nicht wirklich. Wenn wir davon ausgehen, dass heutige Berufseinsteigerinnen noch mindestens acht Mal den Beruf wechseln, dann werden Neuorientierungen und Quereinstiege selbst im letzten Drittel der Laufbahn normal und sollten ohne Existenzängste möglich sein. Ich bin überzeugt, dass das Festhalten an möglichst geraden Karriereverläufen die Gesellschaft und Wirtschaft mittelfristig mehr kostet, als die lebenslange, kreative Laufbahngestaltung stärker zu supporten.

Zur Person

Bernadette Höller beschäftigt sich seit 20 Jahren wissenschaftlich und praktisch mit Alters- und Generationenfragen. Sie ist Co-Geschäftsführerin bei Loopings und engagiert sich in der Beratung von Organisationen.

Wer kommt zu Ihnen, um sich beraten zu lassen? Mit welchem Ziel?

Zu uns kommen Organisationen, die eine «Late ­Careers»-Strategie entwickeln möchten, um die Potenziale ihrer alternden Belegschaft und auch älterer Kandidierender im Arbeitsmarkt besser zu nutzen. Manchmal ist der Wunsch auch, einen konkreten Knackpunkt im Generationenmanagement direkt zu lösen. Das kann zum Beispiel sein, die Entwicklungschancen im letzten Drittel der Laufbahn zu verbessern, lebenslanges Lernen zu fördern oder die Führung und den Wissenstransfer in altersgemischten Teams zu verbessern.

Können sich Privatpersonen, die über ihre berufliche Zukunft nachdenken, ebenfalls an Sie wenden?

Auf jeden Fall. Auf unserer Website gibt es Informationen und nützliche Links rund um Standortbestimmungen, Weiterbildungen, Quereinstiege, Weiterarbeit nach 65 und vieles mehr. Menschen, die auf der Suche nach Eins-zu-eins-Coachings sind, werden auf unserer Landkarte fündig. Ausserdem laden wir Personen, die stellensuchend oder auf dem Weg in die Selbständigkeit sind, zu separaten Stammtischen an verschiedenen Orten in der Schweiz ein, um sich mit Gleichgesinnten auszutauschen. Laufbahnentwicklung im Sinne von Loopings ist immer Teamwork. In einer Arbeitswelt, die immer komplexer wird, brauchen wir alle Verbündete.

Wann ist der beste Zeitpunkt, um die eigene Karriere neu zu denken?

Immer. Karriere nach unserem Verständnis gleicht eher einer Kurve mit regelmässigen Loopings als einer Gerade mit Anfang und Ende. Laufbahngestaltung ist ein fortlaufender Prozess von Reflektion, Ausprobieren und Verändern. Wir machen die Erfahrung, dass Menschen, die Veränderung auch im Kleinen suchen und Freude daran haben, ihr Netzwerk zu nutzen, automatisch irgendwann krumme Lebensläufe haben und viel von dem ins Arbeitsleben bringen können, was ihnen wichtig ist. Das ist die Verantwortung, die bei uns allen selbst liegt: Sofern wir die Ressourcen dazu haben, die Umstände selbst zu gestalten, und nicht umgekehrt.

Loopings

Loopings ist das Kompetenzzentrum für Arbeit 45+. Die gemeinnützige Stiftung unterstützt Menschen ab der Lebensmitte dabei, ihre berufliche Zukunft selbst­bestimmt und kreativ zu gestalten, und Organisationen in den Themenfeldern Generationenmanagement und
Late Careers.

Zusammen mit der Berner Fachhochschule organisiert Loopings vom 2. bis 6. September 2024 «Your Stage – das Festival zu Arbeitswelten 60plus».

Sollten Arbeitgebende und HR-Verantwortliche einen Anstoss dazu geben, über die Karriere nachzudenken, und insbesondere eine Weiterarbeit nach 65 anregen?

Standortbestimmungen, Boxenstopps, Zukunftsgespräche, Life Design Ateliers oder in welcher Form auch immer: Explizite Angebote als Anstoss und zur Unterstützung der Gestaltung der zweiten Hälfte der beruflichen Laufbahn empfehlen wir unbedingt. Teil davon kann, je nachdem, welche Ziele das Unternehmen diesbezüglich hat, die Auseinandersetzung mit einer Weiterarbeit nach 65 sein.

Ist es im Interesse der Arbeitgebenden, dass die Mit­arbeitenden länger arbeiten?

Das hängt davon ab, zu welchen Erkenntnissen die strategische Personalplanung im jeweiligen Unternehmen kommt. Angeschaut werden hier neben der Fluktuation und den Pensionierungsraten auch die Erwartungen im Hinblick auf die Frage, welche Kompetenzen in fünf Jahren gebraucht werden. Deswegen kann es auch gut sein, dass sich die Ziele je nach Bereich und Berufsfeld unterscheiden.

Was können Unternehmen bieten, damit die Mitarbeitenden länger im Arbeitsprozess verbleiben?

Das können unterschiedliche Dinge sein, je nach Branche und Beruf und letztlich auch je nach Person. Wenn es in meinem Interesse als Unternehmen liegt, das durchschnittliche Renteneintrittsalter zu erhöhen, sollte man nachforschen, warum Kolleginnen und Kollegen das Unternehmen vorzeitig verlassen und ob es schon heute Teile der Belegschaft gibt, die auch länger bleiben würden. Und wenn ja, was es dafür braucht. Dazu würden wir die Leute direkt ins Boot holen und fragen, welche Gedanken sie zum Thema Weiterarbeiten haben und was sie daran reizen würde. Und dann entsprechende Modelle entwickeln. Wichtiger Bestandteil einer Strategie «Durchschnittliches Renteneintrittsalter erhöhen» sind Gefässe, in denen sich die Mitarbeitenden immer wieder mit dem Thema auseinandersetzen können sowie geschulte Führungskräfte, die die richtigen Fragen rechtzeitig und immer wieder stellen.

Glauben Sie, dass mit kurvigen Karriereplänen der Fachkräftemangel gemildert werden kann?

Unternehmen, die aktiv für Entwicklungschancen ohne Altersgrenze eintreten, haben auf jeden Fall die Chance, vom Kuchen der Personen, die sich schon heute vorstellen können, länger als bis 65 zu arbeiten, zu profitieren. Nach dem aktuellen HSLU Generationenbarometer der Hochschule Luzern sind das über 40% der Befragten.

Take Aways

  • In gewissen Branchen wie der Gastronomie oder dem Gesundheitswesen gibt es nicht nur einen Fach-, sondern gar einen Arbeitskräftemangel. Demgegenüber gibt es ausreichend «normale Bürokräfte».
  • Unternehmen und die öffentliche Hand sind gefordert, gerade bei über 45-Jährigen Quereinstiege mit Um­bildungen zu fördern.
  • Arbeitnehmende und Führungskräfte müssen sich von der Vorstellung von geradlinigen Karrieren verabschieden. Zu erfolgreichen Karrieren gehören Loopings.

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