Sie zweifeln also an der Zukunftsfähigkeit unseres Bildungssystems?
Gegenfrage: Ist das aktuelle Modell geeignet, um unsere Kinder und Jugendlichen auf eine digitale, dezentralisierte und von Unsicherheiten geprägte Welt vorzubereiten? Meiner Meinung nach nicht. Es geht nicht nur darum, die Klassenzimmer zu renovieren oder interaktive Tafeln zu installieren. Es geht darum, die Bildung radikal neu zu denken, damit sie besser zu unserer viel technologischeren und vor allem viel unvorhersehbareren Ära passt.
Was schlagen Sie vor?
Auch wenn ich keine Lösung habe, weiss ich, dass viele Forscher daran arbeiten, die Schule für eine Welt, die gerade grundlegend von Technologie verändert wird, neu zu erfinden. Sie erkunden neue Möglichkeiten, Technologie zu nutzen, um das Lernen zu revolutionieren und um ein Bildungssystem zu schaffen, das unserer Ära nicht nur heute, sondern auch morgen noch entspricht. Ein System, das Kreativität, Voraussicht und einen positiven Umgang mit Unsicherheiten fördert. Das ist eine immense Herausforderung, aber genau die Art von Herausforderung, die wir annehmen müssen, um unsere Kinder wirklich auf die Zukunft vorzubereiten.
Als Futuristin untersuchen Sie seit vielen Jahren den Einfluss neuer Technologien auf die Arbeitswelt und exponieren sich mit teils radikalen Thesen. Wie gehen Sie mit Menschen um, die Veränderungen in der Arbeitswelt skeptisch gegenüberstehen und die massiven Umwälzungen anzweifeln?
Paradoxerweise indem ich ihnen Beispiele aus der Vergangenheit gebe, um zu zeigen, dass selbst Experten sich irren können. Zu meinem Lieblingsbeispielen gehört eine Aussage von Autopionier Gottlieb Daimler aus dem Jahr 1901: «Die weltweite Nachfrage nach Fahrzeugen wird niemals eine Million überschreiten, einfach aufgrund des Mangels an verfügbaren Fahrern.» Eine Aussage, die heute grotesk erscheint. Ein weiteres Beispiel von einem Experten, der sich keine möglichen Zukunftsszenarien jenseits linearer Projektionen vorstellen konnte, stammt vom IBM-Präsidenten Thomas J. Watson, von dem das folgende Zitat aus dem Jahr 1943 überliefert ist: «Ich denke, es gibt einen Markt für etwa fünf Computer.»
Was wollen Sie mit diesen Beispielen zeigen?
Der Mensch neigt dazu, linear zu denken, überzeugt davon, dass morgen wie heute sein wird, nur etwas wärmer wegen des Klimawandels, etwas digitaler wegen der Digitalisierung, etwas polarisierter aufgrund der geopolitischen Lage und so weiter. Aber auch wenn diese Beispiele nicht alle Skeptiker in Bezug auf die tiefgreifenden Umbrüche der Zukunft der Arbeitswelt zu überzeugen vermögen, werden sie die meisten wenigstens zum Nachdenken anregen.
Der «Future of Jobs Report 2023» vom WEF prognostiziert, dass die aktuelle Beschleunigung der digitalen Transformation in den nächsten fünf Jahren rund ein Viertel aller Berufe tiefgreifend verändern wird und in diesem Kontext die wichtigsten Fähigkeiten der Zukunft das analytische Denken und die kreative Denkfähigkeit sein werden. Können uns die neuen Technologien bei der Entwicklung dieser Fähigkeiten unterstützen?
Lassen Sie mich auch auf diese lange Frage mit einem etwas längeren Zitat antworten: «Um die Fähigkeiten im analytischen Denken und in der kreativen Denkfähigkeit mithilfe neuer Technologien zu entwickeln, können wir digitale Tools wie Datenanalyse-Software und Kreativitätsapplikationen verwenden. Zum Beispiel ermöglichen die Software von Microsoft Excel, Tableau oder andere Online-Datenanalysetools, Daten zu visualisieren, um damit analytisches Denken weiterzuentwickeln. Was die kreative Denkfähigkeit betrifft, bieten Grafikdesign-, 3D-Modellierungs- oder Videobearbeitungssoftware wie die Adobe Creative Suite oder Blender Möglichkeiten für kreative Ausdrucksmöglichkeiten. Der Zugang zu Online-Tutorials und Kursen ermöglicht es auch, diese Fähigkeiten eigenständig zu erlernen. Neue Technologien machen den Kompetenzerwerb so zugänglicher und ermöglichen es Einzelpersonen, sie in ihrem eigenen Tempo zu entwickeln.» Zusammenfassend lässt sich sagen, dass zur Entwicklung zukünftiger Fähigkeiten die Technologie genutzt werden muss, wie ich es bereits für die Erstellung der obigen Antwort mit ChatGPT getan habe ;-).
Zurück zum «Future of Jobs Report 2023»: Teilen Sie die These, dass die gefragtesten Skills der Zukunft das analytische Denken und die kreative Denkfähigkeit sind?
Vorsicht, es gibt viele solcher Skill-Listen und sie ändern sich schnell. Der «Skills Outlook 2025» vom WEF ist sicher auch relevant, aber der Ausblick bezieht sich auf das Jahr 2025, was kaum als Zukunft betrachtet werden kann. Wenn wir über die Fähigkeiten der Zukunft sprechen, müssen wir auch über die zukünftige Umgebung sprechen, in der diese eingesetzt werden sollen. Doch diese Umgebung ist heute noch weitgehend unbekannt. Vielleicht bestehen die wichtigsten Fähigkeiten der Zukunft darin, eine positive Beziehung zur Unsicherheit aufzubauen sowie die Fähigkeit zur Antizipation zu entwickeln.
Zur künftigen Entwicklung der HR-Berufsbilder schreiben Sie in Ihrem Buch «HR Futures 2030», dass HR-Fachleute ihre technologischen Kenntnisse sowie ihre zwischenmenschlichen Fähigkeiten entwickeln müssen. Wie kann man den HR dabei helfen, das richtige Gleichgewicht zu finden?
In meinem Buch schlage ich dafür als Leitbild eine Art moderne Mythologie vor. Ich benutze kraftvolle Metaphern, um eine Welt zu beschreiben, in der die Interaktion zwischen Mensch und Maschine je nach Rolle stark variieren kann. Vom Mönch, der gegenüber Technologie widerstandsfähig, aber Experte in zwischenmenschlichen Beziehungen ist, über den Zentauren, der sich durch Technologie stärkt und gleichzeitig die Kontrolle über Entscheidungen behält, bis hin zum Halbgott, der vollständig mit Technologie verschmolzen ist. Die Rollen sind also vielfältig und vielschichtig. Ich bin überzeugt, dass Unternehmen eine grosse Vielfalt von Persönlichkeiten und Präferenzen in ihren HR-Teams wertschätzen und fördern müssen. Die Herausforderung für HR besteht darin, in diesem Kontext das richtige Gleichgewicht zu finden. Mein Buch schlägt 22 neue Disziplinen vor, die je nach Grösse und Ambition der Unternehmen angepasst in die HR-Funktion integriert werden können.
Haben HR-Generalisten noch eine Zukunft?
Ja, ich glaube an ihre Beständigkeit. Das Generalisten-profil könnte sogar am wenigsten schnell veraltet sein in dieser sich ständig verändernden Welt. Aber die eigentliche Frage ist, wie ein HR-Generalist der Zukunft aussehen wird – auf jeden Fall nicht wie der Generalist von heute. Alle Berufe entwickeln sich weiter, auch der des HR-Generalisten.
Welche Ausbildungswege empfehlen Sie künftigen HR-Fachkräften?
Um die HR-Fachkräfte von morgen auszubilden, stehen heute viele innovative Ausbildungen zur Verfügung. Etwa die Studiengänge von Hochschulen oder die neuen CAS/DAS-Ausbildungen, die sich auf die Weiterentwicklung von HR konzentrieren. Um eine zusätzliche Dimension hinzuzufügen, würde ich jedoch auch Ausbildungen auf Fachgebieten ausserhalb des traditionellen HR-Bereichs empfehlen, wie künstliche Intelligenz, Management oder Datenwissenschaften. Diese ergänzenden Fähigkeiten ermöglichen es HR-Profis, sich in einer zunehmend technologischen und komplexen Arbeitswelt leichter zu bewegen.
Eine Frage noch: Welche Empfehlung geben Sie Eltern, die ihren Kindern bei der Berufswahl helfen möchten?
Als Mutter von drei Kindern stehe ich täglich vor diesem Dilemma. Angesichts einer Zukunft, in der Unsicherheit die einzige Konstante zu sein scheint, glaube ich fest daran, dass das Wichtigste für sie ist, ihre Neugier, Kreativität und Leidenschaft zu pflegen. Dies bedeutet, einen Berufsweg zu wählen, der sie jetzt begeistert, ohne sich zu sehr um die hypothetische Zukunft des Fachbereichs zu kümmern. Es geht nicht so sehr darum, was sie lernen, sondern darum, wie sie lernen.
Quellen:
World Economic Forum: Future of Jobs Report 2023.
Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI: Nahtstellenbarometer 2023.
Take Aways
- Jugendliche dazu ermutigen, ihre Neugierde, Kreativität und Leidenschaft zu entwickeln, ist für eine erfolgreiche Berufswahl entscheidend.
- Um Talente anzuziehen, gewinnt der Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit mit Implementierung kontinuierlicher Schulungen gegenüber der Arbeitsplatzsicherheit an Bedeutung.
- Angesichts der Geschwindigkeit, mit der sich die Welt verändert, wird in Zukunft ein positiver Umgang mit Unsicherheit und technologischen Innovationen zur entscheidenden Fähigkeit.
Verunsicherter Berufsnachwuchs
Trotz einer Vielzahl von Ausbildungsoptionen hat die Generation der 14- bis 17-Jährigen zunehmend Schwierigkeiten zu entscheiden, was sie beruflich einmal machen möchte.
Laut dem «Nahtstellenbarometer 2023 – Bildungsentscheide nach der obligatorischen Schulzeit» im Auftrag des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation SBFI zeigt sich, dass mit 35% rund jede dritte jugendliche Person sich im Moment des Austritts aus der obligatorischen Schule noch nicht festlegen kann, welche weiterführende Ausbildung folgen soll.
Die rasante Veränderung der Berufsbilder infolge der digitalen Transformation erleichtert die Entscheidung in keiner Weise. So prognostiziert die WEF-Studie «Future of Jobs Report 2023», dass sich in den nächsten fünf Jahren rund ein Viertel aller Berufe tiefgreifend verändern wird.
Fast die Hälfte der Schweizer Jugendlichen entscheidet sich für eine Berufslehre, wobei die Mehrheit den Beruf des Kaufmanns oder der Kauffrau wählt. Laut den Prognosen der erwähnten WEF-Studie sind es jedoch genau die Büro- und Sekretariatsberufe, die rückläufig sind.
Big Data, künstliche Intelligenz und neue Technologien beeinflussen die Entwicklung der Berufe stark. Einige verschwinden und andere müssen sich fast vollständig neu erfinden. Freilich entstehen auch neue Jobprofile. Aber die Berufsbildungsverantwortlichen haben Schwierigkeiten, ihre Lehrinhalte so anzupassen, dass sie den sich in hohem Tempo verändernden Fähigkeiten gerecht werden.
In der Schweiz sind nur 53% der Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren zuversichtlich in Bezug auf ihre Zukunftsaussichten. Diese Zahl sinkt auf 21%, wenn sie nach ihrer Meinung zur Zukunft der Gesellschaft gefragt werden. Diese Zahlen sind im Vergleich zu den Vorjahren rückläufig und ein ziemlich deutliches Zeichen für die Unsicherheit, mit der die Jugendlichen heute konfrontiert sind.
In der Folge sieht sich diese Generation in der Arbeitswelt oft mit dem Vorwurf konfrontiert, dass es ihr an Motivation fehle, dass sie an nichts interessiert sei oder dass sie sich nicht loyal gegenüber dem Ausbildungsbetrieb verhalte. Dabei geht oft vergessen, dass sich mit den Zeiten auch die Mentalitäten ändern. Wenn früher «Karriere machen» gleichbedeutend war mit einer 30- bis 40-jährigen Berufslaufbahn im selben Unternehmen, sind solche Jubiläen heute definitiv ein Auslaufmodell. (Cindy Carvalho)