Nach den Zweidrittelmehrheiten an den Abstimmungen vom vergangenen Wochenende für einen Mindestlohn in den Städten Zürich und Winterthur will die SP mit ihren Bündnispartnern in weiteren Städten nachdoppeln. So hat in der Stadt Luzern die Juso bereits eine Volksinitiative für einen Mindestlohn von 22 Franken pro Stunde eingereicht.
Auch in der Stadt Schaffhausen soll noch 2023 eine Volksinitiative lanciert werden. Eine Allianz aus linken Parteien, Organisationen und Institutionen wolle einen Mindestlohn einführen. «Auch bei uns gibt es Menschen, die von ihrem Lohn nicht leben können», sagt SP-Kantonsrätin Linda De Ventura gegenüber dem Tages-Anzeiger. Sie sei überzeugt, dass die Bevölkerung nicht wolle, dass Menschen zu Tiefstlöhnen arbeiteten.
Intakte Chancen auch in Bern
Auch in der Bundeshauptstadt sehe sich die Linke durch das Abstimmungswochenende bestätigt. So haben die Stadtberner Stimmberechtigten haben einem Personalreglement zugestimmt, das für städtische Angestellte sogar einen Mindestlohn von 52’000 Franken pro Jahr und den vollen Teuerungsausgleich vorsieht. In den Kantonen St. Gallen, Thurgau und Appenzell Ausserrhoden sammeln Gewerkschaften, SP und Grüne zurzeit Unterschriften für eine Petition, die einen Mindestlohn von 23 Franken fordert.
Als Pionier hat Neuenburg 2017 als erster Kanton in der Schweiz einen staatlichen Mindestlohn eingeführt. Dieser liegt heute bei 20.77 Franken pro Stunde. Es folgten mit Jura, Genf und Tessin weitere Kantone. In der Deutschschweiz setzten sich mit Ausnahme von Basel-Stadt die Mindestlohnforderungen bisher nicht durch, weil die Bürgerlichen die Mehrheit haben. In den grösseren Städten dominiere jedoch die Linke, weshalb sich in nächster Zeit in weiteren Deutschschweizer Städten Mindestlöhne durchsetzen könnten, so die Analyse des Tages-Anzeigers.
Ausnahmeregelung für GAV?
Damit drohe ein offener Konflikt mit dem Bund. Wie der Autor aufzeigt, hat das eidgenössische Parlament letztes Jahr festgehalten, dass kantonale Mindestlohnregelungen nicht landesweite Gesamtarbeitsverträge (GAV) aushebeln dürfen. Die entsprechende Motion von Mitte-Ständerat Erich Ettlin sei allerdings vor dem Hintergrund kantonaler Regelungen wie jener in Neuenburg verabschiedet worden, wonach der Bundesrat gesetzlich festhalten soll, dass allgemein verbindlich erklärte Landes-GAV kantonalen Mindestlohnregelungen vorgehen. Konkret: Sieht ein gesamtschweizerischer GAV tiefere Mindestlöhne vor als die kantonale Vorgabe, so muss gemäss dem Willen des eidgenössischen Parlaments der Mindestlohn im GAV gelten.
Droht ein Flickenteppich?
Dass sich nach einigen Kantonen nun die Städte in die Lohnpolitik einschalten, heize die Debatte auf Bundesebene weiter an, schreibt der Tages-Anzeiger. Für Erich Ettlin sei nach den Entscheiden in Zürich und Winterthur klar, dass der Vorrang der GAV auch gegenüber den städtischen Mindestlöhnen gelten soll. Der Bundesrat müsse bei der Ausarbeitung der gesetzlichen Grundlage die Entscheide in den Städten miteinbeziehen. Für Ettlin erschweren kommunale und kantonale Mindestlöhne die GAV-Verhandlungen der Sozialpartner. Es drohe ein Flickenteppich, was er anhand zweier Beispiele illustriert: Im Kanton Zürich gelte im Gastgewerbe nun in den Städten Zürich und Winterthur ein höherer Mindestlohn als in Kloten oder Thalwil, wo für die Betriebe weiterhin die Regelungen des GAV der Gastrobranche massgebend seien.
Bis auf Bundesebene eine gesetzliche Regelung mit dem GAV-Vorrang in Kraft ist, dürften allerdings noch mehrere Jahre vergehen. Ettlin rechnet offenbar damit, dass bis dahin in zahlreichen Städten Mindestlöhne beschlossen werden, vor allem dort, wo die Linke die Mehrheit hat. Kein Problem hat Ettlin mit der Basler Regelung, denn diese enthält die in seiner Motion verlangte Ausnahme, wonach GAV-Bestimmungen unangetastet bleiben.
Können Rechtsrekurse den Volkswillen aushebeln?
In einem Interview mit dem Rechtsprofessor Felix Uhlmann, räumt dieser einem Rekurs des Zürcher Gewerbeverbandes gegen den Stadtzürcher Mindestlohn wenig Chancen ein. Dieser könne auch eingeführt werden, wenn das Verfahren vor Bundesgericht noch hängig wäre und verweist auf das Neuenburger Modell: «Aus unserer Sicht rechne ich eher mit einer Abweisung des Rekurses. Die Ausgangslage erscheint nicht prinzipiell anders als die Situation im Kanton Neuenburg, wo das Bundesgericht einen Mindestlohn für zulässig erachtet hat.» Im Fall Neuenburg hat das Bundesgericht entschieden, kantonale Mindestlöhne seien zulässig, solange sie «sozialpolitischen Charakter» hätten.