Frau Nobile, in welchen Situationen kommen Unternehmen auf Sie zu?
Häufig sind es Unternehmen, die merken, dass ihre bisherigen Systeme die gewünschten Entwicklungen behindern. Sie merken, dass sie noch immer top-down ticken, während sie aber mehr Autonomie für ihre Mitarbeitenden erreichen wollen. Beispielsweise hatten wir mit einem Unternehmen zu tun, das in teilautonomen Kundenteams arbeitete. Jedes Teammitglied entschied selbst, welches Kundenticket er oder sie bearbeiten wollte. Aber beim Thema Gehalt gab es kein Mitspracherecht; das System repräsentierte stattdessen ein Machtverhältnis, das eigentlich gar nicht mehr zur Organisation passte. Das sorgte für Spannungen nicht nur bei den Mitarbeitenden, sondern auch bei den Entscheidern, zu deren Führungsphilosophie dieses Handeln über die Köpfe der Mitarbeitenden nicht mehr passte.
Wenn solche Spannungen entstehen, wird irgendwann nach Lösungen gesucht. Dies bewegt den Kundenkreis, den wir beraten. Wir haben aber auch Kunden, die eher traditionell arbeiten, aber die Absicht haben, sich zu transformieren. Davon kann man dann das Vergütungssystem schlecht ausschliessen, wenn die Belegschaft diese Veränderung ernst nehmen soll. Mit partizipativen Gehaltssystemen werden wichtige Zeichen gesetzt.
Welche Faktoren sind wichtig, wenn über neue Vergütungssysteme nachgedacht wird?
Partizipation ist ein wichtiger Punkt sowohl bei der Festlegung neuer Entgeltkomponenten als auch im Prozess selbst. Das impliziert mehr Transparenz bezüglich der Fragen, wie sich das eigene Gehalt bestimmt und wie es sich entwickeln kann. Dies ist vielen Mitarbeitenden nicht klar. Auch die Prozesse, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen, sind vielen unklar, beispielsweise die Tatsache, dass es bestimmte Budgets gibt, die sich in einer bestimmten Range bewegen. Es geht darum, mehr Nachvollziehbarkeit und damit auch mehr Fairness zu schaffen. Fairness ist ein weiterer zentraler Gedanke, der das Miteinander massgeblich gestaltet.
Was ist mit dem Aspekt der Leistungsorientierung? Spielt dieser Wert, um den herum sich traditionelle Lohnsysteme konstruieren, noch eine Rolle?
Ich komme zur Beantwortung dieser Frage zurück auf die Fairness. Es gibt in der Forschung zwei Unterscheidungen, wenn es um Gerechtigkeit geht: die Verfahrensgerechtigkeit und die Verteilungsgerechtigkeit. Durchblick bei Prozessen, die zu einer bestimmten Verteilung führen, ist bereits eine gute Grundlage für Fairness, denn man realisiert, dass gleiche Bedingungen für alle gelten. Hier liegt bei so manchen Unternehmen eine Ursache für Unzufriedenheit. So verhandeln vielleicht einzelne Mitarbeitende doch ihr Gehalt zwischendurch neu, obwohl dies gemäss Reglement nur zu bestimmten Zeitpunkten möglich ist.
Bei der Verteilungsgerechtigkeit geht es um die Kriterien, nach denen der Gehaltstopf aufgeteilt wird. Und hier ist in unserem Kulturkreis die Frage zentral: Was ist leistungsgerecht?
Bei dieser Frage bauen sich heutzutage Hürden auf: Wie kann man eine konkrete, individuelle Leistung gerade auch im Teamzusammenhang beschreiben? Je stärker die Arbeit von Kreativ- und Problemlösungsleistung geprägt ist, umso schwieriger wird es. Bei Leistung denkt man häufig in quantitativen Kategorien oder an Anstrengung. Unser Leistungsbegriff wurde in der Vergangenheit stark von der Produktion geprägt, in der Leistung relativ einfach quantifizierbar war. In der Wissensarbeit ist das nicht mehr so simpel. Deshalb sehe ich als Trend, dass statt Leistung eher Verantwortung und Kompetenz bewertet werden. Ich kann nur empfehlen, den Begriff Leistung gut zu reflektieren.
Über welche Vergütungssystemkomponenten sprechen Sie mit Ihren Kunden?
Wenn es um Prozesse geht, sprechen wir mit unseren Kunden auch über die Komponenten des Systems, die zum Unternehmen passen sollten. Braucht es beispielsweise Funktionskomponenten, weil die Jobprofile sehr unterschiedlich sind? Braucht es vielleicht eine Basiskomponente im Sinne eines Mindestlohns, der im Unternehmen gezahlt wird? Dieser kann an einen statistischen Medianlohn oder an ein Durchschnittseinkommen gekoppelt werden. Dies kann sinnvoll sein, um die Gehaltsschere nicht zu sehr auseinanderklappen zu lassen. Grundsätzlich gilt, je flacher die Hierarchien und je ähnlicher die Aufgaben und der Beitrag zur Wertschöpfung, umso geringer sollten die Gehaltsunterschiede sein.
Es gibt Gehaltsstrukturen, die sich über Jahre automatisiert weiterentwickeln – beispielsweise im öffentlichen Dienst. Das kann man belächeln, aber Betriebszugehörigkeit, die sich im Gehalt widerspiegelt, kann ein wichtiger Faktor sein, die Mitarbeiterbindung zu fördern.
Ein Start-up aus dem Sportbereich hat dies so umgesetzt, dass Mitarbeitende, die bereits sehr früh eingestiegen sind und beim Aufbau des Unternehmens mitgewirkt haben, für jeden Monat Betriebszugehörigkeit bis zu einem bestimmten Stichtag einen kleinen Entgeltbaustein bekommen. Hier soll das persönliche Investment honoriert werden.
Bei der Vergütung spielt auch das Menschenbild eine Rolle: Soll sie belohnen oder auch sanktionieren? Sanktionierungen empfehle ich nicht, denn diese verändern nichts. Man verliert nur die Menschen. Ein Lohnsystem ersetzt eben nicht Führung und kann Spannungen zwischen Menschen auch nicht ausgleichen.
Bei einer Leistungskomponente kann man fragen, was die unterschiedsbildenden individuellen Attribute sind, die man vergüten kann. Wenn jemand beispielsweise in einem Callcenter permanent durchgetaktet arbeiten muss, im Gegensatz zu jemandem, der oder die sich frei die Zeit einteilen kann, dann könnte diese Fremdtaktung eine Komponente sein, die man im System abbildet.
Inspiriert hat uns dazu der «Comparable worth»-Ansatz aus einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung (Comparable-Worth-Studie). Diese kommt zum Schluss, dass bestimmte Belastungen bei der Bewertung einer Arbeit gar nicht einbezogen werden, beispielsweise psychosoziale Elemente. Ein Fabrikarbeiter verdient im Vergleich zu einer Pflegefachkraft beispielsweise mehr, obwohl die Belastungen einer Pflegefachkraft nicht geringer sind.
Muss man nicht auch die Wettbewerbsfähigkeit der Löhne im Auge haben? Unternehmen agieren nicht isoliert.
Die Wettbewerbsumfelder können in den verschiedenen Funktionen sehr unterschiedlich sein: Ist der Arbeitsmarkt regional oder auf eine bestimmte Branche begrenzt? Man muss bei manchen Funktionen einen externen Benchmark machen, wenn man merkt, dass man mit den Löhnen nicht mehr wettbewerbsfähig ist. Wichtig ist dann allerdings, dass man intern ein System hat, das vergleichbare Jobs auch vergleichbar entlohnt. Der grösste Fehler in Unternehmen besteht darin, dass man neue Mitarbeitende auf höherem Lohnniveau einstellt, es aber intern nicht anpasst. Dann kommen Mitarbeitende natürlich zu dem Schluss, dass sie erstmal kündigen müssen, um ein höheres Gehalt zu bekommen. Das ist für Motivation und Bindung eine schlechte Voraussetzung.
Gibt es nachhaltige Trends bei den Gehaltssystemen?
In Zukunft werden sich Erfolgsbeteiligungen stärker etablieren, und zwar in einer Pro-Kopf-Verteilung, nicht auf prozentualer Basis. Ich bin mir auch sehr sicher, dass wir in fünf bis zehn Jahren über die heutige Intransparenz nur noch die Köpfe schütteln werden. Unternehmen sind meines Erachtens heute schon gut beraten, die Gehaltsrange bei Stellenanzeigen anzugeben.
Der Grad der Partizipation bei der Gestaltung von Gehaltsthemen wird sich ebenfalls verändern, dies betrifft neben der Frage der Verteilung vor allem die Prozesse. Wenn sich Menschen nämlich im Prozess der Lohngestaltung nicht wahrgenommen fühlen, entsteht schnell das Gefühl mangelnder Wertschätzung. Auch gilt es Erwartungshaltungen zu begegnen, indem transparent wird, was möglich ist. Und man muss danach fragen, wie Menschen Gehaltsprozesse erleben.
Wie weit darf Partizipation gehen und wo sehen Sie Grenzen?
Ich bin davon überzeugt, dass Organisationen, vor allem bei der Weiterentwicklung und Neugestaltung von Gehaltssystemen mit Partizipation, immer einen Schritt weiter gehen sollten, als dies bisher der Fall war. An Grenzen stösst man da, wo Mitglieder der Geschäftsführung aufgrund rechtlicher Rahmenbedingungen Verantwortung tragen und festlegen müssen, wie mit Budgets umzugehen ist. In soziokratischen Unternehmen treffen diese Entscheidungen beispielsweise bestimmte Kreise; in traditionellen Organisationen entscheiden die Geschäftsführungen oder Gesellschafter.
Lenken Lohndiskussionen in selbstorganisierten Unternehmen nicht zu sehr vom Alltagsgeschäft ab?
Beim Thema Gehalt können sich Konflikte innerhalb einer Organisation manifestieren, die aus ganz anderen Zusammenhängen entstanden sind. Alles, was ohnehin im Unternehmen an Reibung vorhanden ist, kocht beim Gehalt hoch. Dann muss man sich fragen, was ein Lohnsystem leisten kann und was nicht. Wertschätzung und Gehalt sollten möglichst entkoppelt werden. Ein Gehaltssystem ist im Idealfall ein Regelsystem. Die Kriterien eines Regelsystems bestimmen etwas, was man natürlich hinterfragen kann. Wertschätzung findet immer zwischen Menschen statt. Wenn man sich also nicht wertgeschätzt fühlt, stimmt vielleicht vordergründig etwas mit den Kriterien nicht. Wenn man dann aber gezielt bei den Zweiflern nachfragt, sieht die Sache häufig anders aus: Die Menschen fühlen sich nicht wahrgenommen, erhalten kein Feedback oder erleben unbefriedigende Arbeitsbedingungen. Solche Probleme lassen sich auch mit einer Gehaltserhöhung nicht ausräumen.
Das Gehaltsniveau ist auch Ausdruck der eigenen beruflichen Entwicklung. Dies ist eine Herausforderung in agilen Unternehmen: Je flacher die Hierarchien werden, umso weniger Anhaltspunkte haben die Mitarbeitenden dafür, wie sich ihre berufliche Entwicklung vollzieht. Viele Menschen hängen auch noch an Jobtiteln, die eine vermeintliche Entwicklung anzeigen.
Wenn man die Faktoren analysiert, die auf Gehaltsdiskussionen einwirken, kann man Personalentwicklung betreiben. Wenn man aber versucht, die Probleme übers Gehalt zu lösen, dann kommt man nicht weit und führt Stellvertreterdiskussionen.
Das Sprechen über das Gehalt ist eine Mündigkeit, die entwickelt werden muss. Man muss Geldaspekte aktiv miteinander regeln.
Können Sie uns über Fails bei der Entwicklung neuer Lohnsysteme berichten?
Ein Fail ist für mich, wenn Organisationen beim Gehaltssystem nicht vom Fleck kommen und man sich fragen muss, was sie eigentlich lösen wollen. Das heisst, es findet kein Lernen statt.
Gehaltsthemen müssen sich permanent wie eine Software über verschiedene Releases weiterentwickeln und mit dem Wandel im Unternehmen und in der Gesellschaft Schritt halten.
Oft werden aber die Probleme mit dem System nicht richtig im Hinblick auf tote Winkel im Verständnis oder in der Kommunikation untersucht. Man muss nicht gleich das ganze System infrage stellen, aber man kann herausfinden, wie man den Prozess gestaltet und ihn mit Leben füllt. Auch reichen mitunter punktuelle Anpassungen, um ein bestehendes System wieder attraktiv und funktional zu machen. Dieses Nachstellen einzelner Komponenten erlaubt Lernerfahrungen.
Wir haben beispielsweise mit einem Vertriebsteam gearbeitet, in dem wir nur einzelne Komponenten verbessert haben. So lagen die Einstiegsgehälter im Basislohn zwischen 2200 bis 2400 Euro. Es gab keine Kriterien ausser «Verhandlungsgeschick» dafür, wer 2200 Euro und wer 2400 Euro bekam. Das führte immer wieder zu Konflikten. Verhandlungsgeschick will aber niemand mehr. Die Menschen möchten klare Kriterien. So etwas lässt sich leicht aus der Welt schaffen.
Haben Sie ein erfolgreiches Beispiel?
Wir haben gerade mit einem Unternehmen gearbeitet, das innerhalb von zwei Jahren von zweihundert auf sechshundert Mitarbeitende gewachsen ist. Wir haben dort mit einem Freiwilligenteam aus allen Unternehmensbereichen am Gehaltssystem gearbeitet, beginnend mit der Frage: Was sind unsere Werte? Was gibt uns Orientierung, wenn nicht mehr Top-down-Ansagen gemacht werden? Stringente und gelebte Werte sind in einem Unternehmen, das mehr Partizipation ermöglichen will, deshalb sehr hilfreich.
Dies haben wir bei einer Firma aus der Elektrobranche erlebt. Das Unternehmen wandelte sich in eine Stiftung. Im Zuge dieser Veränderungen wurde die prozentuale Gewinnbeteiligung umgestellt auf eine Pro-Kopf-Ausschüttung mit der Begleiterscheinung, dass besserverdienende Mitarbeitende dadurch weniger erhalten. Das war nicht ganz einfach, aber schliesslich nachvollziehbar vor dem Hintergrund der Werte, die das Unternehmen lebte. Wenn man diese Werte nicht konsequent sichtbar macht, wie glaubwürdig können sie dann sein? Kommunikation ist hier wichtig. Das Gehaltssystem wird neuen Mitarbeitenden nun von denjenigen erklärt, die im Projektteam mitgewirkt haben. Es ist zwar auch nur eine emotionslose Tabelle, aber es soll auch vermittelt werden, wie der Prozess gestaltet und wie das System von den Mitarbeitenden getragen wird.
Wie steigen Sie in Ihre Lohnsystem-Projekte ein?
Wir starten immer mit einem Scoping-Workshop, in dem der Rahmen abgesteckt wird. Beispielsweise stellen wir die Frage: Was sollen Menschen, die sich bewerben, zukünftig über das Vergütungssystem sagen? Wir fragen dann auch nach Prinzipien und Werten, die handlungsanleitend für die Systementwicklung sein sollen. Natürlich muss auch abgegrenzt werden, was nicht in das Projekt gehört. Wichtig ist zudem, genau abzuklären, wer am Ende über das System entscheidet.