Fit für die Arbeitswelt von morgen

Donnerstag, 20. März 2025 - Gregor Gubser
Mobiles Arbeiten, Teilzeit, Bogenkarriere oder Plattformarbeit. Die Arbeitswelt ist, getrieben von der Digitalisierung und der Demografie, in ständiger Veränderung. Wo Lücken in der Sozialversicherung entstehen und wie diese geschlossen werden können.

Die Arbeitswelt verändert sich seit je. Die Schweiz hat sich von einem Landwirtschafts- zu einem Industrie- und schliesslich zu einem Dienstleistungsland entwickelt. Im Jahr 2023 arbeiteten 78% der Erwerbstätigen im tertiären Sektor (Schweizerische Arbeitskräfteerhebung [SAKE], BFS) und lediglich noch 2% in der Land- und Forstwirtschaft. Die Zeit, als viele Angestellte in Fabriken arbeiteten, war die Geburtsstunde der Sozialversicherungen. Zunächst mit dem Fabrikgesetz, das die Unternehmen in die Verantwortung für das Wohlergehen der Beschäftigten nahm, und danach mit dem Unfallversicherungsgesetz, das die Arbeiter gegen die finanziellen Folgen eines Unfalls absicherte – und die Firmen entlastete. Hier soll nicht die gesamte Geschichte der Sozialversicherungen nachgezeichnet werden – dafür eignen sich Fachbücher wie der «Leitfaden Schweizerische Sozialversicherung» besser –, aber es zeigt, dass sich die Sozialversicherungen an die Arbeitswelt angepasst haben. Nun zeichnen sich neue Veränderungen ab, wie Michael Grampp im Interview erläutert. Wie wirken sich diese Veränderungen auf die Sozialversicherungen aus? Wo entstehen Lücken, und wie können sie geschlossen werden?

Eine Herausforderung, der sich Unternehmen unabhängig von den Sozialversicherungen gegenübergestellt sehen, ist der Fach- oder Arbeitskräftemangel. Die Generation der Babyboomer ist teilweise bereits im Rentenalter oder steht kurz davor. Diese bedeutende Kohorte fehlt vermehrt auf dem Arbeitsmarkt. Es braucht deshalb Angebote, um diese möglichst lang im Erwerbsprozess zu halten, und zugleich Strategien, um sie zu ersetzen. Ersetzen kann man sie teilweise durch eine insgesamt bessere Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials und andererseits durch Zuwanderung von Arbeitskräften aus dem Ausland. Eine Möglichkeit, die Menschen länger im Arbeitsprozess zu halten, ist die Bogenkarriere.

Bogenkarriere

Das Arbeitsleben oder die Karriere und damit allenfalls der Lohn müssen nicht linear ansteigen. Zu dieser Erkenntnis gelangen immer mehr Erwerbstätige, und auch die Arbeitgebenden haben dafür vermehrt ein offenes Ohr. Erwerbsunterbrüche können ebenso eingeplant werden wie eine Reduktion der Verantwortung oder des Arbeitspensums im fortgeschrittenen Alter.

Um sich Zeit für die Familie nehmen zu können, gibt es in der 1. Säule eine Entschädigung für den Mutterschaftsurlaub und von diesem abgeleitete Urlaube (mehr dazu im Artikel «Sozialversicherungsleistungen für Familien im Überblick»). Für einen Erwerbsunterbruch der Mutter von maximal 14 Wochen ist also gesorgt. Doch was passiert, wenn dieser Erwerbsunterbruch länger dauern soll oder zum Zweck einer Weltreise erfolgt? Dann entsteht zunächst ein Unterbruch in der Unfallversicherung. Für Heilbehandlungen muss die Unfalldeckung wieder in der Krankenversicherung eingeschlossen werden, eine finanzielle Absicherung in Form von Taggeldern lässt sich allenfalls noch teuer in einer privaten Einzelversicherung erkaufen.

Längerfristig entstehen durch die Zeit ohne Erwerbseinkommen Lücken in der Altersvorsorge. Solange der Wohnsitz in der Schweiz bleibt, bleibt auch die Unterstellung und Beitragspflicht in der 1. Säule. Allenfalls ändert sich die Beitragsberechnung, weil nun als nicht erwerbstätige Person abgerechnet werden muss. In der 2. Säule können Lücken zu einem späteren Zeitpunkt wieder durch Einkäufe gefüllt werden.

Um das Arbeitspensum rund um das Referenzalter (65) zu reduzieren, gibt es seit der Reform AHV 21 (in Kraft seit 1. Januar 2024) mehr Flexibilität. Die Rente kann sowohl ganz als auch teilweise vorbezogen oder aufgeschoben werden. Gerade der teilweise Bezug der Rente ermöglicht ein mehr oder weniger stabiles Einkommen, wenn das Arbeitspensum reduziert wird. Weiterhin gilt natürlich, dass die Rente durch den Vorbezug gekürzt und durch den Aufschub erhöht wird.

Home- oder Mobile-Office, Coworking

Der Trend hin zur Arbeit ausserhalb des Unternehmenssitzes – sei es zu Hause, unterwegs im Zug, in einem Restaurant oder in einem Coworking-Space – hat auf die Sozialversicherung keinen Einfluss, da sich die erwerbstätige Person unverändert in einem Anstellungsverhältnis befindet, den Lohn bekommt und die Sozialversicherungsbeiträge durch die Firma abgerechnet und bezahlt werden. Es können sich allerdings Abgrenzungsprobleme zwischen Berufs- und Nichtberufsunfällen ergeben. Besondere Aufmerksamkeit erfordern die Sozialversicherungsunterstellung und steuerliche Aspekte, wenn Grenzgängerinnen im Homeoffice arbeiten oder wenn das Mobile-Office im Ausland eingerichtet wird (Stichwort Workation; siehe Interview «Ferien und Arbeit kombinieren»).

Flexible Arbeitszeiten

Ähnlich wie Homeoffice stellen auch flexible Arbeitszeiten für die Sozialversicherungen keine besondere Herausforderung dar. Sowohl für die Versicherungsunterstellung als auch für die Beitragserhebung spielt es keine Rolle, wann die entlöhnte Arbeit erbracht wird. Zu beachten ist bei aller Flexibilität, dass das Arbeitsgesetz sowohl für die Arbeit am Arbeitsplatz als auch unterwegs oder zu Hause gilt: Nacht- und Sonntagsarbeit ist grundsätzlich verboten, und auch maximale Arbeitszeiten müssen eingehalten werden.

Teilzeit und Mehrfachbeschäftigung

Wer Teilzeit arbeitet, erzielt weniger Lohn, als wenn er oder sie denselben Job in einem Vollzeitpensum erfüllen würde. So weit, so klar. Klar ist auch, dass entsprechend dem tieferen Lohn auch die in den Sozialversicherungen versicherte Summe tiefer ist und Taggelder oder Renten tiefer ausfallen. Wer während des Erwerbslebens mit dem tieferen Lohn auskommt, sollte folglich nach der Pensionierung (oder bei Arbeitslosigkeit, Krankheit oder infolge eines Unfalls) auch mit einem geringeren Ersatzeinkommen zurechtkommen.

«Nicht weniger als 70% arbeiten, sonst wird es knapp», pflegt Sozialversicherungsexpertin Gertrud E. Bollier zu sagen. Warum? Während in der 1. Säule jedes Erwerbseinkommen versichert wird, sieht das in der beruflichen Vorsorge anders aus. Im BVG muss der Jahreslohn zunächst die Eintrittsschwelle (aktuell 22680 Franken) übertreffen, und danach wird vom Lohn auch noch der Koordinationsabzug (26460 Franken) abgezogen. Somit wird von einem (sehr) tiefen Einkommen wenig oder gar nichts in der beruflichen Vorsorge versichert. Da Eintrittsschwelle und Koordinationsabzug für jedes Arbeitsverhältnis einzeln angewendet werden, kann insbesondere die Mehrfachbeschäftigung zu tiefen BVG-Renten führen. Ein Beispiel: Vier Arbeitsverhältnisse zu je 20% ergeben mit total 80% zwar ein substanzielles Pensum und mutmasslich ein ausreichendes Erwerbseinkommen. Jedes einzelne Arbeitsverhältnis vermag allerdings die Eintrittsschwelle nicht zu übertreffen und ist nicht dem BVG unterstellt. Folglich hat diese Person keinen Anspruch auf eine BVG-Invaliden- oder -Altersrente.

Allerdings ist das BVG nur ein Minimal- oder Rahmengesetz, und die Vorsorgeeinrichtungen können mit den angeschlossenen Arbeitgebenden bessere reglementarische Leistungen vorsehen. So wäre es möglich, sowohl auf die Eintrittsschwelle als auch den Koordinationsabzug zu verzichten oder diese an das Arbeitspensum anzugleichen. So könnten auch Angestellte mit tiefen Pensen ein vertretbares Altersguthaben in der 2. Säule ansparen. Bei mehreren Arbeitsverhältnissen wäre es zudem möglich, dass die Pensionskasse eines Arbeitgebers im Reglement vorsieht, auch die Löhne der anderen Arbeitsverhältnisse zu versichern. Würde diese Regelung obligatorisch, könnten Mehrfachbeschäftigte eine zuverlässigere Altersvorsorge aufbauen.

Die Reform BVG 21, die im September 2024 von Volk und Ständen abgelehnt wurde, hätte eine tiefere Eintrittsschwelle sowie einen prozentualen Koordinationsabzug vorgesehen.

Wer die Eintrittsschwelle nicht erreicht und folglich der beruflichen Vorsorge nicht unterstellt ist, hat keinen Anspruch auf eine Invalidenrente aus der Pensionskasse. Und wer versichert ist, die Pensionskasse aber nur das BVG-­Minimum für die Invalidenrente vorsieht – die sich aufgrund des vorhandenen Alterskapitals berechnet –, darf nicht mit substanziellen Rentenzahlungen rechnen. Gerade junge Menschen, die ihre Erwerbsfähigkeit verlieren und erst ein geringes Alterskapital ansparen konnten, laufen Gefahr, sehr tiefe IV-Renten zu erhalten. Doch auch hier können die Pensionskassen reglementarisch bessere Leistungen vorsehen. Weit verbreitet sind Risikoversicherungen (Invalidität oder Tod), die Rentenleistungen im sogenannten Leistungsprimat am versicherten Lohn bemessen, z.B. 60% des versicherten Lohns.

Selbständig Erwerbstätige und Plattformarbeit

Wer als Selbständiger arbeitet, muss seine Sozialversicherungsbeiträge selbst mit der Ausgleichskasse abrechnen, ist nicht obligatorisch der Unfallversicherung und der beruflichen Vorsorge unterstellt und hat nur beschränkt Anspruch auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung. Zudem ist die reine (Selbst-)Deklaration der Selbständigkeit für die Ausgleichskassen nicht bindend (siehe Dossier «Erwerbsstatus» in Penso 6/24). Das kann dazu führen, dass der Auftraggeber rückwirkend zur Arbeitgeberin wird und entsprechende Beiträge mit der Ausgleichskasse abrechnen und den Angestellten bei der Pensionskasse und der Unfallversicherung anmelden muss.

Die Digitalisierung hat die Vermittlung von Arbeit (häufig kleine Aufträge) über Plattformen möglich gemacht. Gerade der Status der Auftragnehmer solcher Plattformen ist häufig strittig. Während die Plattformbetreiber sich als reine Vermittler von Aufträgen an Selbständige sehen, wird aufgrund von Abhängigkeit und Weisungsgebundenheit seitens der Sozialversicherungen ein Angestelltenverhältnis angenommen. Prominentes Beispiel dieser Streitigkeit ist Uber mit entsprechenden Urteilen betreffend die Kantone Genf oder Zürich. Zudem besteht in der Arbeitslosenversicherung für Nebenverdienste, die über ein Vollzeitpensum hinausgehen, kein Anspruch auf Leistungen. Beitragspflichtig sind diese Erwerbseinkünfte aber sehr wohl. Wer sich also über kleinere Aufträge aus Plattformen ein Zubrot verdient, geht diesbezüglich bei Arbeitslosigkeit leer aus.

Da Angestellte in Sozialversicherungsbelangen einen etwas höheren Schutz geniessen als Selbständige, ist es im Grundsatz zu begrüssen, dass im Zweifel ein Anstellungsverhältnis angenommen wird. Letztlich sind alle Erwerbseinkommen zumindest in der 1. Säule obligatorisch versichert und in der 2. Säule auf freiwilliger Basis versicherbar. Dennoch bleibt bezüglich des Status von Plattform-Workern eine gewisse Unsicherheit, die durch die Politik mit verschiedenen Vorstössen angegangen werden soll.

Auffangnetze

Wenn das Einkommen durch die Renten aus der 1. und der 2. Säule nicht zum Leben ausreicht, gibt es subsidiäre Sozialwerke. Die Ergänzungsleistungen (EL) zur AHV/IV garantieren zusammen mit den Renten das Existenzminimum. Letztlich muss niemand verhungern, auch wenn aus welchen Gründen auch immer nur ein geringes Einkommen versichert wurde und entsprechend tiefe Rentenleistungen resultieren. Ein luxuriöses Leben ist so aber bestimmt nicht möglich.

Bei der Berechnung des Anspruchs auf EL werden nebst tatsächlichen Einkünften auch Einkünfte einberechnet, auf die verzichtet wird. Dazu gehören der Vermögensverzicht, aber auch der Verzicht auf eine zumutbare Erwerbstätigkeit. Im Fall von Altersrenten wird allerdings der Verzicht vor der Inanspruchnahme von EL während des Erwerbslebens nicht berücksichtigt. Wer (freiwillig) Teilzeit gearbeitet hat, beansprucht also theoretisch die Solidarität der steuerfinanzierten EL.

Wer bereits während des Erwerbslebens nicht genug zum Leben verdienen kann – also ein Working Poor ist –, kann auf die Sozialhilfe zurückgreifen. Allerdings sind auch hier die Voraussetzungen streng und die Leistungen darauf ausgerichtet, nur das Existenzminimum zu sichern.

System taugt für die meisten Entwicklungen

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Sozialversicherungen bereits heute die meisten Entwicklungen in der Arbeitswelt abzudecken vermögen. Die eine oder andere Lücke lässt sich nach aktueller Gesetzgebung aber nicht ohne weiteres kompensieren. Welche Wege die Politik einschlagen könnte, erläutert Andri Silberschmidt im Interview.

Take Aways

  • In der 1. Säule (AHV, IV, EL) sind sämtliche Erwerbstätige sowie Nichterwerbstätige versichert. Die Beiträge wie auch die Leistungen orientieren sich am effektiven Lohn, unabhängig davon, ob dieser aus einer Vollzeit-, einer Teilzeit- oder einer Mehrfachbeschäftigung stammt.
  • Flexible Arbeitsmodelle, sei es bezüglich Ort oder Zeit, haben keinen Einfluss auf die Sozialversicherungen – entscheidend ist das Erwerbseinkommen.
  • Bogenkarrieren werden insbesondere durch den (Teil-)Vorbezug oder den Aufschub der Altersrente ermöglicht.
  • Teilzeiterwerbstätigkeit reduziert das individuelle Erwerbseinkommen und in der Folge auch die versicherten Rentenleistungen. Die Auswirkungen sind wegen der BVG-Eintrittsschwelle und des fixen Koordinationsabzugs insbesondere in der 2. Säule markant.
  • Plattformarbeit hat zweierlei Folgen. Erstens ist nicht immer klar, ob die Tätigkeit als unselbständig oder selbständig zu werten ist, zweitens sind Kleinstpensen und Nebenverdienste schlechter abgesichert.

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